Freitag, 4. November 2016

der charakter als krankheit: warum wir (keine) diagnosen brauchen

dass ich irgendwie ein bisschen komisch ticke, war mir schon immer klar. im kindergarten hielten die anderen abstand, in der schule wurde ich gemobbt und verprügelt. kinder haben einen guten sensor dafür, wenn bei jemandem etwas nicht ganz stimmt. vielleicht mag ich deshalb keine kinder. sie durchschauen mich. sie sind grausam.

meine erste diagnose bekam ich mit 25. lebenskrise, anpassungsstörung. ich hatte handfeste probleme: starker liebeskummer und eine phase der desorientierung, weil ich merkte, dass ich nicht den beruf ergreifen wollte, auf den ich studierte. die diagnose klang logisch. nachdem der liebeskummer vorüber war und ich eine vage vorstellung von meiner zukunft gewann, war ich wieder "gesund".

nur um dann sechs jahre später erneut zusammenzubrechen. jut, man könnte sagen, ich hatte wieder reale gründe. eine berufliche odyssee mit unzähligen überstunden und menschenunwürdiger bezahlung, eine sehr fiese vorgesetzte, eine (zu späte) trennung von einer person, mit der ich mich schon ewig auseinandergelebt hatte, der umzug in eine fremde stadt, in der ich keine freunde fand, und jährlich expandierende rückenprobleme, die mir den schlaf raubten und mich manchmal wochenlang zur verzweiflung trieben - und last but not least einen höchst aufregenden aber ebenso unzuverlässigen junkie-lover, der mich abwechselnd sabbern und zappeln ließ. das kann in summe auch eine robustere person schon mal aus der bahn werfen. es heißt ja, der mensch brauche fünf säulen - wohnung, job, partner, familie und freunde. einzig eine wohnung hatte ich, die ordentlich einzurichten mir ständig das geld fehlte.

diese durchaus nicht besonders glücklichen umstände trafen in meinem fall auf eine persönlichkeit, die über wenig widerstandskräfte verfügte. der selbstwertgefühl und vertrauen in jeder hinsicht fehlten, die selbstschädigende verhaltensweisen pflegte, und die sich gerne an menschen klammerte, die ihr stark erschienen, stets in der hoffnung, dass etwas von dieser stärke auf sie abfärbte. ein trugschluss: die meisten vermeintlich stärkeren persönlichkeiten walzten mich schlichtweg platt. mit ihrer zielstrebigkeit, ihrem geltungsbedürfnis, ihren sehr konkreten vorstellungen von normalität, die mich erstickten.

zum zeitpunkt des zusammenbruchs gab es eine einzige person, der ich vertraute. das objekt. es brachte mich in die psychiatrie, wo ich nach vier stunden wartezeit zehn minuten zeit hatte, meine symptome (vollkommen innere starre, isolation, suizidgedanken) zu schildern. ich sagte, dass ich vermutlich depressiv sei, was dann auch gleich dankbar als diagnose übernommen wurde: mittlere bis schwere depressive episode. schmeißt man medikamente drauf und gut ist.

meine ersten medikamente waren tetrazyklika. dass sie irgendwie wirkten, merkte ich vorwiegend an den nebenwirkungen. an ständiger schläfrigkeit, dauerkopfschmerz, noch mehr innerer starre, übelkeit und kreislaufproblemen. mein appetit war schon ziemlich im arsch gewesen, jetzt hörte ich ganz auf zu essen, nur um mich dann in heftigen fressanfällen vollzustopfen. das gehörte ebenfalls zu den offiziellen nebenwirkungen meiner psychopillen. mein überlebenswille schrumpfte gegen null. meine hausärztin, eine recht vernünftige ältere dame, drängte mich schließlich, mich um eine neue medikation zu kümmern.

also ging ich wieder in die psychiatrie und meldete artig an, dass ich meine psychiaterin sprechen wolle. die hatte zu tun. ich weiß nicht mehr, wie viele stunden ich der aufnahme saß. gegen 17 uhr erwischte ich endlich einen jungen durchgangsarzt. der sagte, er habe nicht so viel ahnung, da er chirurg sei, aber er kenne ein paar depressive, die mit escitalopram gut klarkamen. wenn ich wollte, würde er mir ein rezept ausstellen, damit ich es ausprobieren könne.

escitalopram wurde meine rettung. ich lief darauf mehr oder minder stabil, wenn auch nicht absturzfrei. ich erhielt daher zusätzlich nach und nach bedarfsmedikation - antipsychotika und eine ganze stange beruhigungsmittel. ich ergatterte einen therapieplatz. damit ging der wahnsinn weiter. der psychologe sagte mir, er halte mich nicht für depressiv, sondern lediglich für hypersensibel. ich solle mich um einen platz in einer selbsthilfegruppe kümmern. er nannte mir eine homepage, auf der die symptome von hypersensibilität beschrieben waren. einige trafen auf mich zu, viele andere nicht. ich schloss mich dennoch brav einer selbsthilfegruppe an, hatte aber sehr bald das bedürfnis, all diesen mimosen in die fressen zu hauen. ich konnte diese menschen nicht verstehen, fühlte mich noch mehr alleine und unverstanden und kapierte nicht, wie man als halbwegs intelligenter mensch auf quantenheilung und ähnliches hereinfallen konnte.

im sommer 2014 zerbrach meine freundschaft zum objekt und damit zum letzten menschen in dieser stadt, dem ich vertraute. es folgte eine stationäre aufnahme wegen akuter suizidgefahr. der behandelnde oberarzt schaute 20 sekunden in meine akte und kategorisierte mich unter borderline ein - interessanterweise genauso wie fast alle frauen auf der station. ich befasste mich ausführlich mit den symptomen von borderline und machte unzählige selbsttests. ich erfüllte einige wesentliche punkte der erkrankung, andere aber auch wieder überhaupt nicht. ich fragte den oberarzt, ob er sicher sei. ich erhielt daraufhin noch eine diagnose - bipolare störung. 

vier diagnosen und unzählige medikamente später gelangte ich an den punkt, an dem ich heute noch immer stehe: ich habe symptome einer depression, einige einer borderline persönlichkeit, bin ein bisschen hypersensibel dann und wann - und habe auch hin und wieder phasen, in denen ich sehr energiegeladen und schlaflos bin und damit ein merkmal der bipolaren störung erfülle. ich bin alles, aber alles ist auch so gut wie nichts. ich habe einfach einen etwas komplexen charakter, der sich mit den platten normen dieser gesellschaft nicht verträgt. und ich weigere mich, meinen charakter als krankheit zu bezeichnen, verficktescheißenocheins.

aus ärztlicher sicht kann ich die notwendigkeit von diagnosen sehr gut nachvollziehen. als psychiater triffst du einen fremden menschen und sollst in zehn minuten kapieren, was in dessen kopf vorgeht und was er zu tun gedenkt (amok laufen, suizid begehen, sich ritzen oder mit drogen zuschmeißen). und ihn dann von all dem effizient abhalten. die richtige pille wählen. keine leichte aufgabe. 

ich habe viele junge eifrige psychiater kennen gelernt, die nach dem schema eindeutige diagnose - eindeutige medikation verfahren und die seele behandeln wie einen schnupfen. wie auch in anderen berufen gibt es da leider sehr viele idioten, die patienten nicht als menschen betrachten, sondern als reparaturbedürftige maschine. meine aktuelle psychiaterin lässt mich machen. sie stellt mir meine rezepte aus, und wenn ich sie etwas frage, bekomme ich eine antwort. eine zurückhaltende, vorsichtige, abwägende, die mir sagt, dass ich mir selbst vertrauen darf. sie weiß, dass sie nicht in meine seele schauen kann, denn selbst wenn ich sie ließe, es wäre zu wenig zeit. sie lässt mich also selber hineinschauen und vertraut mir, wenn ich ihr sage, dies und jenes wäre jetzt gut.

welche medikamente wirken, welche nicht? die wesentlichen medikamente sind nicht chemischer natur. sie sind die struktur, auf die du dich einlässt, wenn sie dir ein arbeitsplatz mit positivem umfeld gibt. sie sind die lebendigkeit, die aus dem austausch mit anderen menschen - wohlgemerkt den richtigen! - entsteht und dich von innen warm und stark macht. sie sind reize und impulse, die nicht stressen, sondern deinen geist anregen und ihn auf eine gute, produktive art und weise beschäftigen.

dennoch hätte ich es ohne medikamente nicht geschafft. weil ich zum entscheidenden zeitpunkt nicht über die medizin des lebens verfügte. und ich bin nicht einmal sicher, hätte sie mir zur verfügung gestanden, ob ich sie hätte annehmen können. an dieser stelle haben die happy pills meines erachtens ihre berechtigung, egal ob placebo-effekt oder nicht.

im leben kann es für mich nur darum gehen, auf eigenen beinen zu stehen. so intensiv wie möglich jede minute auszukosten, ohne etwas zu bereuen. sich allen normen zu verweigern, sich trennen von personen, die mir nicht gut tun und keinen weitblick haben, und sich alleine einen individuellen pfad durch einen noch nie begangenen dschungel zu schlagen. wenn medikamente dabei helfen, ist es für mich persönlich in ordnung.

das schönste aber, was mir mein charakter, der in den augen anderer eine krankheit ist, geschenkt hat, ist die freiheit. eine unbedingte, intensive, manchmal etwas rücksichtslose und furchteinflösende freiheit. ich schenke sie denjenigen, die mir begegnen - und vielleicht, sehr vielleicht und nach gründlicher prüfung gehe ich dann ein stück weit mit diesen menschen zusammen. in aller freiheit.


10 Kommentare:

  1. Mal ernsthaft, ... hör das Jammern auf! Du bist und du kannst!
    Du schreibst Leben, lebst es aber nicht!
    Mal mit Gleichgesinnten ... ist dir zu anstrengend. Du nimmst dir die, die in deinen Augen deine Probleme lösen könnten. Sie bereiten dir aber nur neue ...

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    1. meinst du mit gleichgesinnten andere psychisch kranke? hm. das hab ich ja schon ein paar mal erläutert. a) ist es unheimlich schwer, sie zu finden, weil psychische erkrankungen immer noch stark stigmatisieren und jeder so tut, als wäre nichts, um nicht sein gesicht zu verlieren. selbsthilfegruppen und so kannste knicken, da sitzen nur hartzer und hausfrauen rum, die sich langweilen und die leute wie ich runterziehen. b) die meisten psychisch kranken klammern sich an mich, weil ich trotz seelischem dilemma zumindest kognitiv den durchblick habe. ja, anstrengend. alles erlebt. nächtlicher telefonterror, suiziddrohungen, emotionale erpressung. kostet mich kraft, die ich nicht habe. tut mir leid. nur weil ich einen an der klatsche habe und andere problemhäschen theoretisch verstehe, muss ich für sie nicht mutter theresa spielen.

      ich will freunde wie alle anderen auch, solche nämlich, die zu mir passen. und mit dem luxus-mann bin ich da auf einen sehr guten weg, denke ich. wenns mehr von seiner sorte gäbe, mit denen ich mich befreunden könnte, wäre die welt gleich schöner.

      und sorry "hör das jammern auf": das ist der dümmste und platteste spruch, den man so bringen kann. ich bin ein melancholischer mensch, das ist mein charakter. ich bin pessimistin. na und? wer damit ein problem hat, kann mich mal am arsch lecken.

      ich würde diesen text auch nicht als "jammern" bezeichnen, sondern als ein ziemlich mutiges und ehrliches blankziehen. hätte ich jammern wollen, hätte ich geschrieben, "oooohhhh... es geht mir so schlecht! meine mutter hat mich nie geliebt! und mein papa auch nicht! mein freund betrügt mich bestimmt heimlich! und keiner mag mich! sogar meine katze lehnt mich ab! ich bin ganz alleine! ich werde immer alleine sein! ich bring mich um!" ;)

      ich denke, dass ich mein leben mehr lebe als viele andere. das kannst du nicht beurteilen, weil du nur morphine kennst und morphine ist ein semiautobiografischer teilausschnitt aus dem lebe derer, die hier schreibt. ich unterstelle dir keine böse absicht, weil du öfter mal solche in meinen augen ziemlich kurzsichtigen kommentare bringst. ich denke mal, du meinst es irgendwie nett und ermunternd, nur kommt das bei mir dann leider nicht so rüber. kommunikationsproblem des geschriebenen worts wahrscheinlich. ;)

      und dass ich mir problemlöser für meine schwächen gesucht habe, das war vor zehn jahren. da habe ich das letzte mal eine beziehung versucht mit jemandem, der mir zum damaligen zeitpunkt auf der sonnenseite des lebens zu stehen schien.

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  2. Wow, ich bin sehr beeindruckt von diesem Text, denn er fasst in den meisten Punkten das ganz gut zusammen, was ich selber fühle, aber nur schwer beschreiben kann. Besonders das, was du über die "Medizin des Lebens" schreibst, empfinde ich ganz genau so, und auch ich würde es ohne meine Pillen wohl nicht schaffen, mir selber die Medizin des Lebens zuzuführen. Bei mir spielt noch etwas anderes eine Rolle, weil ich alkoholabhängig bin, aber im Großen und Ganzen trifft dein Text auch perfekt auf mich zu. Danke dafür!

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    1. oha, sucht ist nicht einfach zu besiegen. dann wünsche ich dir ganz viel kraft! wie lange kämpfst du schon?

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    2. Seit einigen Jahren. Seit vier Jahren mit professioneller (und medikamentöser) Unterstützung. Bin im Moment auf ganz gutem Weg, es zum ersten Mal seitdem länger als drei Monate am Stück abstinent zu schaffen.

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    3. dieses "nie wieder" ist ganz schön hart, was? ich bin ja so eine freundin von "halb aufhören" mit etwas. mein größtes problem ist verfügbarkeit von gewissen suchtmitteln.
      wobei ich glaube ich alles zum suchtmittel umfunktionieren kann. ;)

      drei monate ist beachtlich. ich wünsche dir, dass du am ball bleiben kannst! vermutlich ist es gut, wenn man da etwas hat, wofür man durchhält, weil es ja immer diese momente gibt, in denen man es nicht für sich selbst schafft.

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  3. Ich mag den Text sehr! Ich kenn dich nicht, aber ich denke du schaffst es sehr gut dich zu reflektieren. Deine Intelligenz ist wahrscheinlich oft dein Dilemma- das Elend dieser oft beschissenen Welt macht dich krank- mehr als verständlich. Ein Freund von mir hat eine bipolare Störung, aber volles Pfund. Durchgehend manisch entweder in die eine oder die andere Richtung, ich schätze das bist du nicht. Aber du sagst ja auch, daß von allen Diagnosen nur ein Teil zutrifft und das Morphinchen natürlich nicht die komplette U ist, also kann ich das gar nicht beurteilen.
    Mir ist eigentlich danach dem Kollegen mit dem tollen Kommentar, daß du mit dem Jammern aufhören sollst, ein paar Takte sagen, aber ich denke das kann man sich auch genausu gut sparen. Spacko!
    Interessant ist, daß ICH von den fünf angesprochenen Säulen alle fünf habe, fühlt sich aber komischerweise oft nicht wie Säulen an. Angst und Sehnsucht wird man irgendwie nie so richtig los.
    Müßte man Angst haben, sollte das mit dem Luxus-Mann irgendwann nicht mehr klappen? Ich weiß, doofe Frage, woher sollst du das wissen? Zur Zeit liest es sich eh so, als hätte das Potential für etwas Tolles. Und wenn nicht, es gibt Objekte, Luxus-Männer und andere interessante korrekte Menschen, die auf jemanden wie dich Bock haben (als Mensch), da kannst du dir absolut sicher sein. Die Menschheit kränkelt stark, aber ihre Farbtupfer sterben nicht aus!

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    1. ich glaube, ich bin auf eine weise intelligent, die für andere schwer nachvollziehbar ist. es gibt ja diese geradeheraus logische intelligenz, nah der 1+1 2 sind und es ursache und wirkung gibt. ich funktioniere anders, scheint mir. es wird noch eine geschichte zum gestrigen abend dazu geben.

      und ja, ich habe in der tat angst, dass der luxus-mann mich über kriegt. ich hatte schon lange keinen menschen mehr, der mir so wichtig war.

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danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.