Samstag, 14. September 2024

empathy not agony

mitgefühl ist bekanntlich eine gute sache, mitleid(en) hingegen eher nicht. mitgefühl bedeutet, das leid des anderen kognitiv nachvollziehen zu können. mitleid bedeutet, selbst in den gemütszustand des anderen zu verfallen - mit allen negativen folgen.

bislang dachte ich, ich sei ganz gut in sachen mitgefühl. ich kann mir probleme anderer anhören, relativ rational darüber nachdenken und lösungen vorschlagen - oder in fatalen fällen behutsam dosierten galgenhumor einsetzen und grundsätzliches da-sein signalisieren. zumindest wenn ich selbst stabil laufe, fällt mir es nicht schwer, mich nicht zu sehr emotional zu involvieren.

aktuell leidet der luxus-mann stark unter den nachwirkungen seiner op, die - wenn man seinem arzt glaubt - auch nicht ganz gewöhnlich sind. eine lösung ist derzeit nicht in sicht, vor allem keine schnelle. das alles deprimiert den luxus-mann sehr und provoziert bisweilen sogar suizidale unkenrufe. und ich weiß nicht, ob es an den seit juli abgesetzten psychopharmaka oder der eigenen unsicheren lebenssituation liegt: ich leide mit. die inzwischen seit drei wochen stark gedrückte luxus-stimmung hat mich regelrecht infiziert. 

das verursacht mir schuldgefühle. denn der luxus-mann braucht jetzt dringend eine ordentliche portion zupackende zuversicht, radikale akzeptanz und besagten galgenhumor. auf jeden fall die sicherheit, dass ich ungebrochen und tatkräftig an seiner seite bin und wir das kind gemeinsam schon schaukeln werden. aber nein. ich verfalle lieber in depressive anspannung, rast- und schlaflosigkeit. fieberhaft arbeitet sich das hirn tags wie nachts ab, was zu keinerlei sinnvollen ergebnissen führt. was wiederum das gefühl lähmender hilf- und nutzlosigkeit befeuert.

heute ist der luxus-mann in seinen alljährlichen kumpel-urlaub geflogen, den er desmal vor lauter frust und beschwerlichkeiten beinahe gecancelt hätte. und ich? nach einem wohlig-entspannten nachtschlaf erlebe ich einen wahren produktivitätsschub. ich stehe früh auf, führe mir die letzten fortbildungskapitel zu gemüte, absolviere recht souverän ein bewerbungsgespräch, verschicke eine weitere bewerbung, mache die wohnung klar schiff und besuche später noch meinen englischkurs. dann bin ich erschöpft, aber auf eine gute art. ich merke, wie es mir gefehlt hat - dieses mich-um-mich-kümmern. das war vor lauter mitleid viel zu kurz gekommen.

und ich stelle wieder einmal fest: mehr ich bedeutet nicht weniger liebe, sondern ein stärkeres und unabhängigeres wir anstelle diffus verschmolzener (ver)wir(r)-gefühle. so zu denken fühlt sich vielleicht manchmal ein wenig egoistisch an, ist aber wohl eine sehr gesunde sache, stelle ich fest.

der luxus-mann ruft mich am zweiten abend an. er klingt zufrieden und meint, es sei gut, dass er mitgefahren ist - und bedankt sich, weil ich ihn angesichts seiner zweifel dazu ermuntert hatte. "manchmal hast du schon recht, auch wenn ich sonst natürlich immer recht habe", foppt er mich.

Mittwoch, 4. September 2024

negativitissimus

am ersten september 1939 begann der zweite weltkrieg. irgendwie irritierend, dass dieses unrühmliche jubiläum mit den landtagswahlen in sachsen und thüringen zusammenfiel.

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moderne politik dient parteiübergreifend nicht mehr zum nachdenken und gestalten, sondern nur noch der unterhaltung. emotional-inhaltslose phrasen und lügen befriedigen dabei zweierlei: die sucht nach entertainment und die bequemlichkeit, in der persönlichen komfortzone verharren zu können.

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warum einem beim lesen der "welt" die ganze trostlosigkeit des deutschen journalismus bewusst wird.

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die jobsuche war erfolgreich. leider. es wird ein furchtbarer job, noch viel schlimmer als der alte: 50 % reisen, 50% präsenzarbeit, kein homeoffice, keine überstundenregelungen, ein gesetzliches minimum von urlaub, dumpinglohn. ich muss ihn annehmen. was bleibt mir schon anderes übrig? höchstens der strick, denn im marketing herrscht immerzu arbeitgebermarkt. 

geht niemals ins marketing, ich bitte euch! werdet lieber altenpfleger, da bleibt mehr würde - und auch nicht weniger geld übrig. (ich überlege mir das mit dem strick noch.)

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"es gibt echt nichts, was du nicht scheiße findest", sagt der mann manchmal anklagend. damit könnte er recht haben, denn meine enttäuschung ob der menschheit und der ganzen welt ist schier grenzenlos. "mit so einer grundlos dauerfröhlichen stinotante kämst du aber doch gar nicht klar", erwidere ich. womit ich recht haben könnte, gibt der mann zu. kleinste gemeinsame nenner sind so wertvoll!

Mittwoch, 28. August 2024

kriminalität um 80 % reduzieren - und zwar langfristig

warning! ein für sehkrank-verhältnisse extrem feministischer text, der in seiner radikalität nicht ganz humorbefreit konsumiert werden sollte! verständnis für ironie und bewusstes polarisieren sollte vorhanden sein, bevor sie jetzt weiterlesen. sonst gehen sie bitte. danke.

ereignisse wie in solingen rufen nach konsequenzen. fest steht, wir haben ein problem. und zwar mit männern. und das nicht erst seit gestern und seit der verstärkten zuwanderung aus staaten mit etablierter macho-kultur.

statistiken untermauern diese tatsache: ohne männer hätten wir rund 80 % weniger kriminalität im land, denn frauen sind deutlich seltener kriminell als männer. beim delikt mord ist der geschlechtliche unterschied am größten: "... es gibt beispielsweise (fast) keine amokläuferin, sexualmörderin, raubmörderin oder massenmörderin. männliche gewalt ist der gesellschaftlich akzeptierte maßstab für normverletzungen und unterdrückung, die tötende frau hingegen ist der betörende und verstörende gegenentwurf. (...) in konkreten zahlen heißt das: nur 15 prozent der bei mord überführten täter sind frauen, bei den delikten totschlag und tötung auf verlangen sind es lediglich 12 prozent."

vielleicht denken einige nun: die armen männer können aber doch gar nichts für ihren hang zu kriminalität und gewalt. die haben schließlich viel mehr testosteron als frauen! die können sich leider nicht so im zaum halten. entsprechend muss man ihnen das eben nachsehen, wenn ihnen mal die faust oder das messer ausrutscht. oder auch der erigierte penis.

oder etwa nicht?

das institut für kriminologie der universität heidelberg geht davon aus, dass der überhang männlicher delikte vorwiegend eine frage persönlicher werte ist: "männer sind gewalttätiger als frauen, weil sie in größerem umfang delinquenz fördernde werte präferieren und delinquenz hemmende werte ablehnen." kurzum, kriminalität und gewalt sind eine bewusste persönliche entscheidung und keineswegs determiniert. soweit, so traurig. und so anspruchsvoll hinsichtlich der übernahme von verantwortung.

was mich persönlich dabei am meisten stört, ist die tatsache, dass die gesellschaft diese auffallend übermäßig ausgeprägte männliche kriminalität offenbar ganz ok so findet und sie quasi als naturgegeben hinnimmt. der großmäulige macker, der unreflektiert draufhaut, ist immer noch das standardmodell, während ein mann, der sich zurückzunehmen weiß, schnell als lahmer lutscher gilt. die evolution des mannes hinsichtlich gesellschaftlicher verträglichkeit geht insgesamt nur langsam vonstatten - und scheint momentan sogar rückläufig, wenn man beispielsweise die gestiegenen zahlen von häuslicher gewalt betrachtet. oder eben die von messerattacken.

verstehen sie mich nicht falsch. ich liebe die meisten männer von ganzem herzen - für ihre häufig naive ehrlichkeit, ihre unverstelltheit sowie ihre spontane und vielseitige energie. ich ziehe ihre gesellschaft deshalb oftmals der von frauen vor. ich bin auch keine anhängerin von frauenquoten und sonstigem regulativen quatsch. aber männer machen ein land - statistisch betrachtet und speziell in hinblick auf friedlichkeit, harmonie und sicherheit - leider nicht unbedingt besser. zumindest nicht derzeit. das ist ein großes defizit, das uns nicht nur innere sicherheit, sondern auch jede menge geld kostet. riesige polizeiaufgebote, komplexe überwachungsmaßnahmen, unzählige gerichtsprozesse und die kosten für bau und unterhaltung von gefängnissen - all das sind ausgaben, die sich unsere patriachalistische gesellschaft ohne nachzufragen leistet, während anderswo haufenweise geld fehlt. was mich persönlich fassungslos macht.

strengere gesetze, messerverbotszonen oder schnellere abschiebungen sind nicht mehr als ein medien- und publikumswirksames pflaster zur symptombekämpfung. die beendigung des selbstverständlichen hinnehmens von männern als täter hätte hingegen ein potenzial von theoretisch bis zu 80 % reduktion der gesamtkriminalität. 

just saying. 

zum glück hat die alte aber ja auch nix zu melden, denken jetzt sicherlich einige. aber wartet mal ab - zukunftsforscher tristan horx sagt das zeitalter der frauen voraus. zumindest rein theoretisch und immerhin auf sehr diplomatische art und weise. 

p.s.: die schreiben doch hier ab!


 

Freitag, 2. August 2024

müffelalarm und fortschreitender geistiger verfall

auf heimatbesuch. mit vatern geht es weiterhin bergab. das laufen ist nicht mehr sooo viel schlechter geworden, er kann sich noch mühsam mit dem rollator fortbewegen. aber es scheint fast permanent ein nebel in seinem kopf zu wabern. ähnlich wie das objekt lebt er in zuständen endloser tagträumerei unter verlust des zeitgefühls. mein vater kann den tag nicht strukturieren, lebt von mahlzeit zu mahlzeit und von toilettengang zu toilettengang. dazwischen sitzt er auf dem sofa, starrt vor sich hin oder schläft.

zwischendurch gibt es seltene helle momente. immer dann, wenn ihn etwas interessiert - zum beispiel sein auto. als er neue reifen braucht, organsiert er das so flugs wie früher, läuft sogar ohne rollator zur garage und wieder zurück in einem für ihn schier unfassbarem tempo. wir sind verblüfft: wie geht das? meine mutter, inzwischen vollkommen verbittert über meinen vater, spekuliert, dass er simuliert, um sich weiterhin alles anreichen lassen zu können. ich bezweifle das, kann mir aber psychologische komponenten dieses merkwürdigen krankheitsbilds immer besser vorstellen.

sonst braucht er mittlerweile hilfe bei fast allem. auch alleine anziehen geht nicht mehr. soll er beispielsweise in ein t-shirt schlüpfen, zieht er es dreimal falsch herum an. dann hängt es irgendwo oberhalb seines dicken bauchs, weil er nicht versteht, dass er sich mit dem rücken kurz von der stuhllehne lösen muss, um das t-shirt über den bauch bis nach unten ziehen zu können. meine mutter zieht und zerrt derweil an ihm und schimpft dabei.

neu ist, dass mein vater stinkt - und das nicht zu knapp. das liegt vor allem an seiner inkontinenz und dass er seine einlagen zu lange trägt, da er volle einlagen stante pede zum mülleimer bringen soll. ein gang, den man sich natürlich auch sparen kann, wenn man in kauf nimmt, dass die vollgesogene einlage in kleidung und polstermöbel suppt. meine mutter verteilt überall handtücher und alte sitzauflagen, um das schlimmste zu verhindern, und putzt und wäscht den lieben langen tag. trotzdem riechen alle räume, in denen sich mein vater länger aufhält, wie ein obdachlosenheim. 

ich habe mich gefragt, wie urin so schrecklich stinken kann. aber vermutlich liegt es daran, dass mein vater kaum trinkt. am schlimmsten ist es nachts. wenn er nachts auf toilette war, muss man mindestens eine halbe stunde warten und alle fenster aufreißen, damit der gestank wieder abziehen kann. ich selbst nehme meist die toilette im zweiten stockwerk, die er nie benutzt, da ich sonst vor lauter ekel nicht mehr einschlafen kann. dort liegen auch keine versifften einlagen herum, die ja eigentlich in den mülleimer sollen, aber leider selten dort landen. oftmals sind es nette souveniers für denjenigen, der das bad nach meinem vater benutzt.

eine weitere ursache des stinkens ist auch, dass mein vater beim duschen kein duschgel nimmt, sondern nur ein bisschen wasser über sich laufen lässt. laut eigener aussage hat er das immer so gemacht, aber das kann unmöglich stimmen. bis vor ein paar jahren roch mein vater nach dem duschen immer taufrisch nach seife. fast täglich benutzte er rasierwasser oder parfums. nun stinken vor allem die füße  schlimmer als harzer käse. sämtliche aufklärungsmaßnahmen zu diesem thema sind gescheitert. ich habe vorgeschlagen, eine pflegekraft hinzuziehen, die ihn duscht, aber mein vater hat erst pflegestufe 1. meine eltern bekommen nur 40 € monatlich für hilfsmittel.

ärztlicher rat bleibt aus. demenz, parkinson, vaskuläre oder wirbelsäulenschäden? all das steht nach wie vor im raum und scheint doch nicht für alle symptome auszureichen. wir bestürmen meinen vater, sich doch einmal für zwei oder drei wochen in eine reha zu begeben, wo intensiv mit ihm gearbeitet wird. schon allein, um meine mutter zu entlasten, die kurz vorm nervenzusammenbruch steht. aber er weigert sich beharrlich. es sei ja alles nicht so schlimm, meint er, im alltag klappe doch alles. zwischen seiner wahrnehmung und der realität klafft ein weltall.

vor zwei wochen war er bei einem rudimentären demenztest, der überraschend gut ausfiel. wenn er sich keine blöße geben will, funktioniert tatsächlich viel. wieder rätseln wir: ist es wirklich eine krankheit? oder doch nur faulheit? und wenn es eine krankheit ist, wie viel anteil trägt die faulheit an ihrer permanenten verschlechterung?
"kannst du es nicht besser - oder ist es dir einfach egal?", frage ich immer wieder. "niemand wird dir vorwürfe machen, wenn du etwas einfach nicht mehr kannst. aber du musst uns helfen, damit wir dir helfen können!" meine vater kann oder will diese frage nicht beantworten. 

morgens geht es ihm am schlechtesten, insbesondere psychisch. er hat mehrfach verschiedene antidepressiva verordnet bekommen, die seinen antrieb steigern und ihn aus seiner totalen passivität holen sollen. ich hatte fast gejubelt, als mir meine mutter sagte, sie hätten endlich ein rezept dafür bekommen. mein vater weigert sich jedoch, auch nur ein medikament zu versuchen. "du kommst aber doch morgens vor lauter depressivität kaum aus dem bett", sage ich. nein, er habe keine depressionen, behauptet mein vater dann.

meine bereitschaft zu helfen schwankt. ich versuche, meinen vater zum spazierengehen und anderen bewegungsarten zu motivieren. gehe kleine strecken mit ihm, lobe und treibe ihn an. bringe ihm ein paar kniffe am computer bei, die er sich sogar überraschenderweise merkt. doch immer wieder übernehmen auch verzweiflung und wut das ruder. als ich wieder einmal über vollgepisste einlagen und unterhosen stolpere, explodiere ich. sage ihm, wie ich mich für ihn schäme und dass ich niemanden mehr in dieses haus mitbringen könne. dass ich gottfroh sei, dass der luxus-mann keinen urlaub bekommen hat und anders als geplant in kackstadt geblieben ist. eine zumutung sei das, überall seine exkremente herumfliegen zu lassen, und dass er doch sonst schon keinen finger rühren müsse. mein vater wirkt erst zerknirscht, dann wieder vollkommen unbekümmert. mir ist klar, dass er das ereignis sofort wieder ausblendet. ich mache mir indes vorwürfe: ich reagiere schon so zickig und entnervt wie meine mutter! wie kann ich nur einen alten, kranken mann so behandeln!

montag geht es wieder zurück in den norden. fortbildung beantragen, bewerbungsgespräch wahrnehmen, steuererklärung machen, den luxus-mann wiedersehen. mehr als genug zu tun. normalerweise bin ich immer traurig, wenn ich wieder in kackstadt bin. diesmal bin ich fast erleichtert, obwohl ich hier und heute mein elternhaus wahrscheinlich zum letzten mal besucht habe. das stimmt mich wehmütig. längst denke ich nicht mehr in jahren, sondern in monaten. ich lasse meine blicke sehr lange durch mein altes kinderzimmer streifen, überlege, was ich weggebe und was ich mitnehmen werde und wie ich den transport dafür organsiert bekomme. und immer wieder, was wir mit dem haus machen könnten. wahrscheinlich werde ich es nicht halten können, allein die nebenkosten sind höher als meine spätere monatliche rente. so gerne ich hier alt werden würde - die finanzielle situation erlaubt eigentlich nur einen verkauf.

der gefühlsmix aus wehmut, ungewiss, mitleid und zorn wühlen mich auf und verwirren mich. seit drei wochen nehme ich keine antidepressiva mehr, da ich ohne kackjob kaum mehr psychische probleme habe. diese realitäten erlebe ich jedoch ungefiltert und unschön. mal sehen, wie lange ich sie ertrage.

Samstag, 27. Juli 2024

beinig an outsider: die jahre am gymnasium

therapeutisches schreiben, klappe die 2. 

als ich in die fünfte klasse ans gymnasium wechselte, war es zunächst für mich, als könne ich neu anfangen. die meisten kinder aus meiner grundschulklasse gingen auf die haupt- oder realschule. ich beschloss daher, dass ich ab sofort anders sein würde: cool und lustig und vor allem keine streberhafte einser-schülerin mehr.

ich hatte aber auch horror vorm gymnasium, das eine riesige schule mit integrierter realschule war. ein enormer kasten aus beton mit einem ziemlich großen einzugsgebiet an schülern. einige aus meiner alten klasse gingen auf das kleine, sehr renommierte gymnasium im nachbarstadtteil. dort hätte ich mich vermutlich wohler gefühlt. 

doch dann erzählte mir a. - eine 17-jährige aus meinem turnverein, die ich zu meiner großen wahl-schwester auserkoren hatte - dass sie auch auf meinem gymnasium sei. "wenn was ist, kommst du in der pause einfach zu mir", sagte sie aufmunternd. das fand ich toll und half mir sehr bei meinem start. gleichzeitig lockte es mich wieder in die falle. denn was machte ich natürlich? ich stand in den pause mit a. und den anderen zwölftklässern herum, anstatt mich mit den leuten aus meiner klasse zu befassen.

zu a.s clique gehörte einmal ihr freund, der riesengroß und spindeldürr war. für ihn war ich wie eine kleine schwester. außerdem war da eine hübsche blonde, die genauso hieß wie ich. sie konnte irrsinnig gut zeichnen. als ich wieder einmal neben ihr saß und vor bewunderung sabbernd beobachtete, wie sie den stift übers papier fliegen ließ, erzählte sie mir, ihre kleine schwester i. sei eigentlich noch viel talentierter. sie habe das große michelangelo-gemälde gemalt, das die schulaula zierte. ich staunte noch viel mehr und brannte natürlich darauf, i. kennenzulernen. 

i. war ein jahr jünger als ihre schwester und ging in die elfte klasse. in meinen augen war sie eine verheißung. sie trug ihr hellblondes haar knallrot, was ihre leuchend blauen augen und ihre helle haut noch mehr strahlen ließ. sie ging fast immer barfuß, wenn es das wetter auch nur ansatzweise erlaubte. das beste war ihre kleidung: sie trug lange, schwingende röcke aus verschiedenen stoffmustern. sie nähte sie alle selbst. sie war in meinen augen das schönste mädchen der schule und das auffälligste noch dazu.

anfangs war i. wenig begeistert, dass ich ihr fortan hinterherlief. ich war zehn, von mutti spießig eingekleidet und auf den ersten blick einfach nur ein langweiliges kind. aber wir kamen in den flow - und da ihr zuhause auf meinem weg lag, gingen wir oft zusammen, wenn wir mittags zur gleichen zeit aus hatten. ich lernte wahnsinnig viel von i.: wie man haare mit henna färbt. wie man coole bilder malt. wo man gute stoffe für selbstgenähte kleidung bekommt. sie interessierte sich auch für philosophie, woraufhin ich mir zu weihnachten "sophies welt" von jostein gaarder wünschte.

das alles fand ich sehr viel spannender als das, was mir beispielsweise meine banknachbarin so erzählte. sie war in einen der sitzenbleiber in unserer klasse verknallt, den ich oberpeinlich und superdämlich fand, und sie hörte michael jackson, während ich klassische musik bevorzugte. trotzdem nahm ich sie öfter mit zu mir, wenn sie eine schlechte note geschrieben hatte. schlechte noten bedeuteten für sie zuhause prügel, und das tat mir leid.

die anderen mädchen in meiner klasse blieben eher entfernte bekannte für mich. ich beschäftigte mich wenig mit ihnen. ab und an bekam ich mit, dass sie über mich lästerten, aber das fand ich nicht so schlimm. meist ließen sie mich in ruhe. die jungs waren da weniger zimperlich. sie zogen alle register: sie verunglimpften meinen namen, versteckten meine sachen oder warfen mein fahrrad in die böschung, wenn ich morgens vergaß, es an den ständer zu schließen.

ich ertrug es relativ stoisch, da ich einfach keinen wunsch hegte, mich mit ihnen in irgendeiner form abzugeben. den klassenclown hatte ich ebenfalls nur kurze zeit gespielt. diese wenig interessanten menschen waren es mir nicht wert, meine guten noten zu gefährden oder mir sonstigen ärger einzuhandeln.

was mich wesentlich mehr belastete, spielte sich in der siebten und achten klasse ab. ich war damals 12 bzw. 13 und keine schönheit. ich trug immer noch eine feste zahnspange, inzwischen auch noch eine brille und hatte schlimme akne. darüber hinaus trug ich bevorzugt alte kleidung aus den jugendjahren meiner eltern und großeltern - in wilden und absolut nicht stilsicheren kombinationen. 

auf meine sichtbare absonderlichkeit sprang eine gruppe jungs aus der elften klasse an. sie waren in der regel zu dritt: ein anführertyp mit vorlauter klappe, ein zweiter typ, der den anführer unterstützte, und ein schüchterner, der vermutlich ebenfalls eher ein opfer war. der anführertyp kam eines tages kurz nach der pause in unser klassenzimmer zu mir und bat mich recht höflich, doch bitte mal mitzukommen. draußen vor der tür standen die anderen beiden. der anführer behauptete, der schüchterne typ sei in mich verliebt. der schüchterne wollte weglaufen, aber der unterstützer-typ hielt ihn fest - und der anführer-typ mich. wir sollten uns küssen. wir wehrten uns natürlich. irgendwann kam ein lehrer und die typen musste abzischen.

ich war komplett verstört, da ich mit jungs noch nichts am hut hatte. der schüchterne war sicherlich überhaupt nicht in mich verliebt war, allenfalls ein mitläufer und wollte vermutlich auch nur seine ruhe. aber die beiden anderen waren fies. ich ahnte, dass dies nicht unsere letzte begegnung war - und sollte recht bekommen.

fortan wurde ich regelmäßig in der pause oder nach der schule abgefangen, festgehalten, verspottet und manchmal auch bedroht. ähnlich wie in der grundschulzeit suchte ich alternative wege, die schule zu verlassen, versteckte mein fahrrad, damit die jungs nicht sahen, wo ich parkte, oder versuchte, an der seite eines lehrers zu entkommen. aber die jungs wussten, wo ich wohnte und welche straßen ich nutzen würde, um nachhause zu kommen. sie passten mich ab und versperrten mir den weg. 

das ging locker ein jahr so. die jungs wurden des spiels nie müde. irgendwann, als sie mir wieder einmal mit ihren rädern den weg versperrten, gab ich gas. ich krachte heftig ins vorderrad des teuren rennrads des anführers, konnte mich dabei aber im sattel halten und fuhr stolz wie eine königin davon, während der anführer bedröppelt guckte und sein vorderrad begutachtete. ich hoffe, dass er nun den fettesten achter der welt darin hatte.

am nächsten tag nach schulschluss war mein fahrrad verschwunden. ich wusste nicht mehr, ob ich es angeschlossen hatte oder nicht. ich hatte zuerst die jungs aus meiner klasse im verdacht, aber da diese dumm und unkreativ waren, fand ich mein rad sonst berechenbarerweise in der böschung neben den fahrradständern wieder. diesmal war dem nicht so. davon abgesehen passte die aktion viel zu gut zum vorfall am vortag. 

zuhause bekam ich wegen des verschwundenen fahrrads ärger. für meine eltern war sonnenklar, dass ich die sache verschuldet hatte, weil ich mein rad nicht ordentlich abgeschlossen hatte. mich überkam nackte verzweiflung. ich hasste die ganze schule und meine eltern ebenfalls. ich schrieb schlechtere noten als sonst, da ich nachts wachlag und grübelte, wie ich aus der situation herauskommen könnte. ohne fahrrad war ich jetzt dummerweise auch noch langsamer und die jungs hatten ein noch leichteres spiel. 

irgendwann im frühsommer der achten klasse kam die unerwartete wende. ich traf den unterstützer-typen auf dem nachhauseweg alleine an. er sagte höflich hallo und machte keine anstalten, fies zu werden. ich nutzte seine friedlichkeit und beschuldigte ihn, mein fahrrad gestohlen zu haben. er versicherte mir, dass dem nicht so sei. sie hätten es nur woanders hingebracht - in das wäldchen auf der anderen seite des schulgeländes. ich würde es bestimmt wiederfinden. für mich läuteten alle weihnachtsglocken. am nächsten tag fand ich mein rad tatsächlich wieder. es war unversehrt und ordentlich an einen baum gelehnt. 

als ich den unterstützer einige tage später noch einmal alleine traf, wollte ich von ihm wissen, warum sie mich verfolgten. "das war doch nur spaß", meinte er. "das war nicht so gemeint." ich vermutete, dass in dieser antwort viel wahrheit steckte und dass sich mobbing und ähnliche aktionen auf diese weise im allgemeinen gut erklären lassen: es ist für die täter einfach ein riesenspaß - und sie machten sich keinerlei gedanken darüber, wie es dem opfer dabei ging.

noch etwas sehr merkwürdiges passierte an diesem nachmittag: ich fand den unterstützer-typen plötzlich heiß. er war groß, blond und athletisch - und jetzt sogar irgendwie nett zu mir. vielleicht war ihm tatsächlich klar geworden, dass sie zu weit gegangen waren. ich träumte, dass er mich künftig vor dem anführer beschützen würde. meine ersten romantischen kleinmädchen-fantasien!

tatsächlich ebbte das nachstellen ab. das lag allerdings wohl weniger am engagement meines schwarms als vielmehr daran, dass die jungs in die kollegstufe kamen. dies bedeutete an unserem gymnasium individuelle stundenpläne bis zum späten nachmittag - und somit selten gemeinsamer schulschluss um 13 uhr. nach der neunten klasse sah ich keinen der drei jungs wieder. 

bis zum abitur hatte ich das schlimmste hinter mir. meine klasse und ich wurden nie freunde, auch wenn mich ein schüleraustausch mit den usa mit einigen von ihnen näher zusammenbrachte. zu beginn der kollegstufe lernte ich dann meine erste große liebe kennen, was mich zutiefst entspannte. endlich liebte mich jemand - da konnte mich der rest der welt mal am arsch lecken.