Sonntag, 14. Juni 2020

das große kotzen

das leben normalisiert sich nach dem lockdown in weiten teilen. der verkehr wird wieder chaotischer, die luft schlechter. die menschenmassen werden größer und lauter und abscheulicher.

und mein hass und meine depression nehmen täglich zu. ich bin wie auf einem endlosen entzug, ohne zu wissen, wonach ich eigentlich süchtig bin.

ich habe immer weniger lust, nach draußen zu gehen. selbst ein leerer kühlschrank ist kein grund für einen gang zum supermarkt am ende der straße. nur ins fitnessstudio renne ich einigermaßen regelmäßig, denn der rücken scheucht mich und auch dem knie ging es zuletzt beschissen.

ich habe noch 30 tage urlaub für dieses jahr plus resturlaub aus 2019. ich erwäge, eine woche wegzufahren. meine heimat besuchen. aber dafür fehlt mir die energie, einen koffer zu packen und einen zug zu besteigen. und vor allem dafür, danach wieder abschied zu nehmen. außerdem stapeln sich neben dem bürojob eigene  aufträge und im juli wartet die steuer.

ich nehme stattdessen einen tag frei, um einen ärztemarathon zu machen: ekg, psychiatrie und krebsvorsorge. halleluja.

einziger lichtblick sind die lockerungen, was besuche im pflegeheim betrifft. 30 kostbare minuten mit dem objekt hinter einer glaswand stehen mir bevor. ich hoffe auf einen guten tag. auf liebe und erkennen statt amnetische leere. auf umarmungen aus blicken und worten, wenn schon keine körperlichen möglich sind.





Samstag, 6. Juni 2020

die nachtmahrin

3:00 uhr morgens. der luxus-mann krabbelt aus dem bett und geht auf toilette. dann kommt er zurück und legt sich wieder hin.

ich bin dadurch wach geworden und merke, meine blase ist auch schon fast voll. also erhebe ich mich und gehe - wie immer im dunkeln - zur toilette. licht mag ich nachts nicht anmachen, weil es mir diese angenehme schlaftrunkenheit nimmt.

als ich zurückkomme, sagt der luxus-mann: "ich hab mich gerade schon wieder voll gegruselt!"
"hast du wieder mit der geisterfrau geknutscht?"
"nee, aber ich habe eben gar nicht gemerkt, dass du aufgestanden bist. ich war schon wieder so im halbschlaf und dachte, du liegst hier hinter mir. da hab ich auf einmal schritte im dunkeln gehört und geräusche aus dem bad... und als dann die toilettenspülung ging, habe ich mich so erschreckt, dass mir voll der schauer über den ganzen körper gelaufen ist. da... ich hab immer noch gänsehaut!"

ich kichere:
"wer außer mir sollte denn die spülung drücken?"
"eben! wenn du das nicht gewesen wärst..."
"du bist aber auch n töffel", sage ich.
"ich sag dir, ich hab jetzt total herzklopfen, ich kann glaub ich gar nicht mehr einschlafen."
"entspann dich. dein hausgeist muss bestimmt nicht mehr pullern. der hat das hinter sich."
"ich glaube langsam, du bist mein hausgeist!"
"wahrscheinlich."

ich löffle meinen angsthasen.
"muss ich dich jetzt beschützen?"
"nee nee. du steckst doch mit dem geist unter einer decke!"
"ich stecke höchstens mal mit dir unter einer decke."
"das wiederum ist natrlich ausdrücklich erlaubt."

zwei minuten später bin ich im land der träume. als ich das nächste mal aufwache, ist es schon hell und der mann schnarcht friedlich. offenbar sind also weder falsche noch echte geister erneut in erscheinung getreten.

Donnerstag, 4. Juni 2020

liebe hält

drei jahre ist der unfall nun her.

du bist wach, du kannst sitzen, du kannst im rollstuhl herumfahren.
eine magensonde hält dich am leben. deine beine sind noch immer unbrauchbar. die amnesie bleibt bestehen.

ein normales leben rückt immer weiter in richtung unvorstellbarkeit. das bestätigen auch deine ärzte.

wir erwarten keine wunder. keine gnade.

stattdessen warte ich darauf, deine sommersprossigen hände wieder in meine zu nehmen.

denn deine liebe ist da. sie hält. nach wie vor. sie hält mich ganz fest.


Montag, 1. Juni 2020

homo autopilotiensis

immer mal wieder passiert es, dass headhunter auf mich zukommen. und auch wenn ich meinen job aktuell gar nicht wechseln möchte, nehme ich vorstellungsgespräche immer wahr. frau muss ja in übung bleiben. und sie weiß schließlich nie, ob das gras irgendwo nicht doch noch ein bisschen grüner wächst.

einer meiner großen usps ist meine kinderlosigkeit.
"ähem, und sie haben gar keine kinder?" fragt mich auch meine potenzielle neue chefin, fast peinlich berührt. denn in meinen unterlagen steht ja: ledig, keine kinder. aber vielleicht will sie sichergehen, dass dem auch so ist, ich könnte ja schwanger sein oder mich gleich verplappern, dass mein kerl und ich derzeit eifrig zielschießen auf meine wenigen noch verbleibenden eizellen üben.

"mein partner hat zwei, das reicht mir", erwidere ich.
"naja, es gibt eben oft den wunsch nach eigenen kindern", stammelt die chefin.
"meine verantwortung der menschheit und diesem planeten gegenüber ist es, keine kinder zu bekommen", sage ich und achte dabei bewusst darauf, nicht dieses dämliche bitte-finde-mich-nett-höflichkeitslächeln zu lächeln, das man in vorstellungsgesprächen gerne mal aufsetzt.

so, wie die tante jetzt guckt, hat sie wahrscheinlich selbst kinder. aber sie muss meine ansichten schließlich weder teilen noch kommentieren.
"ja, also, wir sind ja auch ein nachhaltiges unternehmen", sagt sie dann.
"das habe ich auf ihrer website gesehen", sage ich. "das co2-ausgleichsprogramm."
"genau", grinst die tante stolz.
"wobei das reine augenwischerei ist, wenn ein unternehmen nicht auch intern nachhaltig agiert", sage ich. "zu meetings mit dem flieger reisen oder mitarbeiter mit dienstwagen zuschmeißen, zum beispiel. am ende noch mit geländewagen!"
dass auf dem parkplatz vor dem haus mindestens die hälfte der autos familienpapi-eierschaukeln sind, habe ich wohl wahrgenommen.

einige sekunden lang herrscht peinliches schweigen.

"gut", sagt die chefin dann geduldig, "dann wollen wir mal über das thema suchmaschinenoptimierung sprechen."
"wenn ich dazu eine frage stellen darf", unterbreche ich.
"ja?"
"haben sie zuvor bereits entsprechende schritte unternommen?"
"nein, deshalb brauchen wir ja eine expertin wie sie!"
"ich frage, weil die sache an sich nichts neues ist. die ersten websites habe ich schon vor zehn jahren optimiert."
"ja, ähm, wir sind spät dran, zugegeben."

ich lehne mich ein wenig zurück. das sieht jetzt bestimmt arrogant aus, aber der job ist auch nicht besonders interessant, also kann ich das ohne weiteres tun.
"wissen sie, der grund, warum unternehmen in die pleite laufen, ist derselbe, warum die menschheit in ein paar jahrzehnten fast ausgestorben sein wird."
die chefin schaut mich verwirrt an.
"der mensch ist ein autopilot. genau wie tiere fühlen sich menschen am wohlsten, wenn sich nichts verändert. sie machen einfach weiter, ohne sich um das zu kümmern, wovon sie genau wissen, dass es in der früheren oder späteren zukunft eintritt."
"deshalb wäre es auch schön, wenn wir so bald wie möglich anfangen könnten", bekräftigt die chefin ihr wohlwollen, die versäumnisse nachzuholen.

"ich habe mir die sichtbarkeitscharts ihres unternehmen und auch der konkurrenz angesehen", sage ich. "das wird nicht einfach. sie werden jahre brauchen, um den vorsprung aufzuholen, insbesondere mit ihrem völlig veralteten cms. das wollen sie ja nicht ändern, oder?"
"ähem, nein, damit arbeiten wir bereits seit 12 jahren, das hat sich bewährt. wenn wir das ändern, müssten wir auch die mitarbeiter, die damit arbeiten, neu schulen."
"verstehen sie jetzt, was ich mit dem autopilot meine?" grinse ich.

dann erhebe ich mich aus dem sessel und verabschiede mich.
"nehmen sie es mir nicht übel", sage ich. "aber ich möchte wenn dann gerne in einem unternehmen arbeiten, das wirklich nachhaltig ist und das in seiner gesamten unternehmenskultur lebt. dazu gehören nicht nur umweltthemen, sondern auch die technische infrastruktur."

und schwupp, bin ich draußen, vor den toren hamburgs, in einer wirklich schönen ländlichen umgebung. eigentlich wäre es nicht schlecht gewesen, hierher ziehen zu müssen, denke ich mir. aber nicht für ein unternehmen, das im modus homo autopilotiensis agiert.