Freitag, 20. August 2021

pendeln

meine urlaube im elternhaus sind mir immer eine zuflucht. hier kann ich noch mal kind sein für einige tage, hier muss ich nicht funktionieren, kann mich mal verwöhnen lassen. 

ich habe sogar noch mein altes kinderzimmer. 

es liegt ein prickelnder zauber darin, schubladen aufzuziehen und dinge zu entdecken, die einem mit 12, 13 oder 15 mal wichtig waren. sich zu erinnern, wie aufregend, ja verheißungsvoll vieles vor einem lag. 

der duft dieser tage hängt noch im holz der kommode und in den laken meiner alten jugendbettwäsche. das gefühl der dankbarkeit bestürmt mich dann, weil meine kindheit rückblickend doch oftmals richtig schön war.

aber mit jedem jahr schwindet die unbeschwertheit. 

der ton zwischen meinen eltern ist in diesem sommer rau. meine mutter, die ihr erstes künstliches gelenk im april erhalten hat, ist angespannt. man merkt es an ihrer grundaggressivität, die ich so gut von mir kenne. das neue kniegelenk ist allerdings nicht der grund dafür. vielmehr ist jeder satz ein latenter vorwurf richtung vater.

mein vater hat seit einiger zeit schmerzen in der hüfte, wenn er nachts aufsteht und zur toilette geht. dieser schmerz ist kurz und heftig und verschwindet dann. theoretisch kann er sich 99% der zeit schmerzfrei und normal bewegen. dennoch schleicht er gekrümmt und mit trippelschritten durchs haus, als hätte ihm jemand die wirbelsäule amputiert. 

die wochen zuvor hat er mir bereits immer am telefon sein leid geklagt. angesichts meiner eigenen misere - zwei kaputte füße, die mich tag und nacht quälen - kommt mir sein problem lächerlich und leicht lösbar vor. 

"du musst dich halt auch mal bewegen", sage ich, die ich weiß, wie mein vater seinen tag verbringt, nämlich: schlafen, essen und vorm tv sitzend. während er im winter noch ab und an 20 minuten auf dem heimtrainer fuhr, hat er mittlerweile jede bewegung eingestellt.

"jaja", sagt mein vater dann jedesmal trotzig wie ein pubertierender teenager.

da nichts fruchtet, nehme ich ihn diese woche richtig ins gebet:
"wenn du nichts machst, wirst du eines tages im rollstuhl sitzen", sage ich.
"dann lass ich mich halt operieren", entgegnet mein vater.
"du hast VERSPANNUNGEN, sagt der arzt, da kann man nichts operieren."
"dann sitz ich halt im rollstuhl."
"dann müsst ihr hier aber ausziehen und euch eine barrierefreie wohnung suchen. und glaub mir, die schmeißt man euch nicht hinterher. vielleicht müsstest du sogar einige monate in einem pflegeheim verbringen. schließlich muss dann die mama hier alleine das ganze haus ausräumen und den umzug organisieren."
 
"ich mach schon was", sagt mein vater schnell, der an seinem haus hängt.
"was denn?"
"ich mach jeden tag sit-ups!"
"echt?"
"jaha! zweimal!"
"zweimal am tag?"
"nee, zweimal."
"also zweimal 20 stück oder was?"
"nee. zweimal."
"du machst ZWEI sit-ups?"
"genau. und das hilft mir schon sehr viel!"
 
ich seufze. 
"ich zeig dir jetzt mal ein paar dehnungsübungen, die sind sehr einfach und werden dir vielleicht helfen."
 eilfertig gehe ich auf die knie:
"hier... so... und dann soo.."
"ich kann nicht knien, davon reißt mir der meniskus."
"du hast ja aber keine meniskusprobleme. und das sind ganz sanfte bewegungen."
"und was, wenn ich nicht mehr hochkomme?"
"dann hältst du dich hier so am schrank fest und ziehst dich hoch. hier, guck so. ich habe die übungen monatelang ohne meine füße machen müssen!"
"aber der arzt sagt, meine bandscheiben sind ok."
"genau deshalb solltest du ja auch etwas gegen deine muskelverspannungen machen!"
 
 meine mutter steht in der tür und beobachtet uns mit säuerlicher miene:
"jetzt versuchs halt wenigstens mal, manfred."
mein vater schaut ängstlich und sucht die nächste ausrede.
"so vertrottelt kann man doch gar nicht sein, dass man ständig nur in seinem eck hockt und nichts macht!" schießt meine mutter jetzt quer.

so viele nerven mich mein vater kostet, so tut er mir dennoch leid. er ist ein introvertierter und prinzipiell empfindsamer mensch wie ich. auch wenn man ihn vermutlich auf die härtere gangart motivieren muss, halte ich die zickereien meiner mutter für kontraproduktiv.

"können wir uns alle mal beruhigen", bitte ich.

"der ist unmöglich", sagt meine mutter, als ich später zusammen in der küche stehen. "der erinnert mich so an seine mutter, ganz furchtbar. ich könnt dem manchmal links und rechts eine reinhauen!"
"aber so kommt ihr ja nicht weiter. redet doch mal miteinander und sagt euch offen und vorwurfsfrei, was euch aneinander stört."
"es ist ja nicht so, dass der sich keine mühe gibt. als ich aus dem krankenhaus kam, hat er ja auch eingekauft und so. klar war ich manchmal sauer, wenn er was falsches angeschleppt hat..."
"das bringt euch aber doch nicht weiter, dieses gezicke. ich merk ja inzwischen, ich bin auch manchmal so, das finde ich richtig schlimm. und vor allem: absolut nicht zielführend."

ich bin längst nicht mehr kind. ich bin eheberaterin, physiotherapeutin, motivationstrainerin und nicht zu vergessen: computer-probleme-löserin.

abend im bett atme ich tief durch und versuche das gefühl der wackersteine auf der brust loszuwerden. 

ich vermisse meine alte heimat und meine familie, wenn ich sie nicht um mich habe. aber nach ein paar tagen bin ich auch wieder froh, in mein offizielles erwachsenen-leben zurückzukehren. 

vermutlich ist das pendeln-können zwischen diesen beiden welten das, was mir gut tut. daher muss ich es nutzen, solange es möglich ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.