Freitag, 27. November 2020

das ewige hadern mit sich selbst

ich bin ein leistungskind. 

nicht, dass ich aus einer privilegierten bildungsbürgerfamilie stammen würde, wo mama ärztin und papa staatsanwalt ist und der hammer somit von vornherein schon mal hoch hängt. meine eltern haben haupt- bzw. realschule und ihre abschlüsse jeweils mit einer schlechten drei bestanden. also kein abi, kein studium, kein doktortitel.

dennoch wurde leistung in meiner kindheit groß geschrieben. sehr groß.

basis für die überbetonung von leistung war das krankhafte konkurrenzdenken meiner eltern, gepaart mit eigenen komplexen. ich musste besser sein als kinder im bekanntenkreis. ich musste vor allem besser sein als mein cousin, sohn der großen schwester meiner mutter. und wehe, dem war nicht so!

nicht, dass man mich geschlagen hätte. so etwas war zwar nicht ausgeschlossen, aber für meine eltern keine gängige erziehungsmethode. aber die tagelang anhaltende enttäuschung in ihren gesichtern verfolgte mich. das fehlen von zärtlichkeit, das andeuten eines verzeihens. stattdessen vorwurfsvolle blicke: eine zwei in religion, wie kannst du nur?

ich kann nicht behaupten, ich wurde nicht gefördert. ich hatte alles. kinderturnen, klavierunterricht, umweltgruppe. ich wurde totgeschmissen mit allem, was man kindern so angedeihen lassen kann.

ich wurde auch für gute leistungen belohnt. nicht so sehr mit zuneigung, aber mit geld. 5 mark gab es für eine eins. für eine zwei gab es nichts. bei einer drei musste ich 5 mark zahlen. bis zur 7. klasse gymnasium hieß das: ein solides plus in der kasse. mehr als andere kinder taschengeld bekamen. leistung erhielt für mich dadurch einen klar bezifferbaren wert - und umgekehrt auch die schuld, also das schulden von leistung.

ab der siebten klasse bekam ich probleme in mathe. ich war zu kurzsichtig, um richtig von der tafel abzuschreiben und lernte alles vollkommen falsch. eine brille wollte ich auf keinen fall. ich verheimlichte meine kurzsichtigkeit drei jahre. das klappte, weil ich in den anderen fächern alles durch reines zuhören und nachlesen im griff hatte.

meine offensichtliche matheschwäche jedoch wurde schnell zum politikum am abendbrottisch."jetzt erzähl doch noch mal ganz genau, warum du wieder nur eine vier hast", wurde ich mehrfach aufgefordert. mit jedem erneuten nacherzählen meines versagens wurde meine scham größer. so lange, bis mir übel war und ich keinen bissen mehr hinunter brachte.

"dann müssen wir dich wohl doch vom gynmasium nehmen", seufzten meine eltern. 

nicht: "brauchst du vielleicht nachhilfe?" oder "das ist nicht so schlimm, jeder hat etwas, was er nicht so gut kann, aber zusammen schaffen wir das schon!"

nein, sie sagten mir: offenbar bist du einfach nicht intelligent genug. schade. ein dummes kind. was für ein makel für uns als eltern!

meine eltern selbst sind keine besonders vielseitig interessierten oder eifrigen menschen. sie haben sich nie weitergebildet, lasen nie bücher, reisten nicht. sie mussten nie überstunden machen und sich auch im job sonst nicht sonderlich anstrengen - den wirtschaftswunderjahren und dem beamtentum meines vaters sei dank. 

wenn meine mutter keine lust auf etwas hatte, wurde sie einfach krank. derweil sorgte ich mich, ob ich aufgrund meiner dummheit vielleicht schuld daran war, dass meine mutter immerzu auf der couch lag und ihre mother´s little helpers schluckte. wenn man so ein schlechtes kind war, machte man seine eltern vielleicht krank? 

kinder neigen zu narzissmus und dazu, signale aus ihrem umfeld auf sich zu beziehen, las ich viele jahre später. als meine mutter eines tages miome hatte und ins krankenhaus musste, war mir das wie ein beweis meiner schuld.

ich erinnere mich auch noch überdeutlich an den tag, als ich mein staatsexamen bestand. mein notendurchschnitt war 0,08 noten schlechter als der meines cousins. "darüber kann man sich ja nicht gerade freuen", war der kommentar meiner mutter, als ich stolz anrief, um ihr mein bestehen zu verkündigen. 

mein vater beklagt sich bis heute, dass das ganze geld, das er mir wegen meines studiums in form von unterhalt und kindergeld in den gierigen rachen schmeißen musste, umsonst gewesen sei. ebenso wie meine kinder-klavierstunden! da hätte er schon erwartet, dass ich "mal was draus mache". (was ihm wohl vorschwebte? starpianistin?)

die ständige stumme enttäuschung sowie die wenig konstruktive unterstützung meiner eltern hatte schwerwiegende folgen für mich und meine entwicklung. ich litt bis in mein arbeitsleben hinein an versagensangst. diese ist zwar mit der zeit besser geworden. aber die tiefe angst vor ablehnung ist geblieben.

so lassen sich probleme natürlich nicht gut lösen, auch die kleinen, alltäglichen nicht. statt frohen mutes zur tat zu schreiten, neige ich zur verzweiflung. es fehlt mir an resilienz.

gestern las ich, dass resilienz entgegen anderslautender meinungen nicht vererbt würde, sondern tatsächlich das produkt der erziehung sei. elterliche unterstützung, eine allgemein optimische, zupackende einstellung bei herausforderungen sowie das vertrauen, dass schon alles gut wird, seien die familiären grundpfeiler bei der entwicklung von resilienz. 

meine erziehung sah eher so aus:

- jede investition muss in einem überdurchschnittlichen ergebnis münden, sonst ist es eine fehlinvestition!
- wenn du etwas nicht auf anhieb kannst, bist du dumm und solltest es lassen
- wenn etwas schwierig ist, schiebe es vor dir her oder werde krank, damit es ein anderer macht. denn du würdest das sowieso nicht schaffen!
- gehe kein risiko in deiner dummheit ein, die enttäuschung währt ewiglich!

seit so vielen jahren ackere ich, um diese grundüberzeugungen abzulegen. doch immer mal wieder gibt es einen moment, in dem ich meine gedanken zu wenig streng kontrolliere und durchleuchte. dann schlägt das fehlende grundvertrauen voll durch.

die objekt-mama schrieb mir kürzlich, dass sie am wochenende mit der weihnachtsbäckerei beginne. "ich backe jedes wochenende genau zwei sorten, damit es nicht in stress ausartet und immer spaß macht! abends setze ich mich dann hin und lese zur belohnung."
 
dass arbeit spaß machen kann, musste ich mir sehr spät langsam beibringen - vor allem, wenn es etwas ist, wobei man theoretisch scheitern kann. dass man sich selbst loben und sogar mit etwas angenehmem belohnen kann, ebenso.
 
vielleicht spreche ich deshalb so gerne mit dieser frau. selbst aus ihren nebensätzen und scheinbaren belanglosigkeiten strahlt optimistische lebensklugkeit.

manchmal hadere ich damit, dass ich 39 werden und jahre depressiv fristen musste, bis sich schritt für schritt und sehr langsam gewisse einstellungen und überzeugungen in meinem kopf bewegten. aber auch dieses hadern ist nur ein symptom meiner heimlichen enttäuschung über mich selbst. 
 
ich vermute, ich sollte schnellstens damit aufhören.

5 Kommentare:

  1. Wenn damit aufhören nur etwas leichter wäre...

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    1. ja. zwischen der erkenntnis und dem fühlen ist eine große diskrepanz. entsprechend schwer fällt dann die umsetzung im alltag.

      bei bewerbungsgespärchen bspw. merke ich immer, dass es für mich weniger darum geht, meine stärken zu betonen, sondern vielmehr zu verbergen, wie ungeeignet ich eigentlich bin. ;-) total panne.

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  2. Kann ich gut nachvollziehen.

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  3. Ich finde in der Resilienzforschung auch sehr interessant, dass Erstgeborene wohl meist mehr davon besitzen. Eben weil die Eltern da noch Ressourcen, auch oder gerade emotional, übrig haben aus bei den jüngeren Geschwistern. Es ist gemein. Ich versuche sehr, meinen Töchtern gleichermaßen Geduld und Optimismus nahezubringen. Wir werden sehen, wie gut das klappt :-)

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    1. das ist ja spannend. ich bin einzelkind, dann möchte ich nicht wissen, wie viel minus-resilienz meine jüngeren geschwister entwickelt hätten. ;-)

      ich denke, es hatte auch etwas gutes, dass mein geschwisterkind nie geboren wurde. das wäre geboren worden, als ich 4 jahre alt war - und da ging es meiner mutter psychisch wirklich schlecht. aber therapie und so war damals halt noch nicht so en vogue.

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