Donnerstag, 19. November 2020

die alte nutte hoffnung tanzt

seit dem gespielinnen-aus gibt es sie wieder: telefonate mit der objekt-mama. ich bin immer ganz aufgeregt und freue mich irre vor. mit dieser frau zu sprechen ist ein bisschen, wie mit einem teil des objekts zu reden. meine persönliche dosis objektive dna.

gute neuigkeiten gibt es, die mich sehr glücklich machen. 

das objekt kann neuerdings wieder mahlzeiten essen, beginnt, von sich aus soziale kontakte zu mitpatienten zu knüpfen und hat angefangen, an einer maschine rad zu fahren. seine mutter, ihres zeichens lehrerin, bringt ihm mithilfe von grundschulmaterialien lesen und schreiben neu bei. kurzum, der wechsel in den osten war ein volltreffer.

zwei kuriose neue hobbys habe das objekt entwickelt, erzählt mir seine mutter. das eine sei das singen von schlagern, obwohl er schlager früher hasste. dabei zeigt sich, dass ihm singen viel leichter fällt als sprechen. das objekt muss ein lied nur einmal hören und merkt sich dann phänomenalerweise den gesamten text. den kann es singend auch korrekt wiedergeben, ohne dass ihm seine wortfindungsstörungen dazwischenfunken. 

ich vermute, dass dieses neue hobby nicht immer auf die gegenliebe seiner mitpatienten stößt, aber es ist ein gutes zeichen. 

"ich weiß ja nicht, was für musik mein sohn immer so gehört hat", sagt die objekt-mama. "da bist du vielleicht näher dran."
"ich kann ihm ja mal eine cd brennen oder so", biete ich an. "also wenn er die abspielen kann."
"das geht, ich habe ihm kürzlich einen discman gekauft."

die zweite neue objekt-leidenschaft ist essen klauen. nachdem das objekt nicht mehr an der magensonde hängt, stopft es alles in sich rein - auch das, was es noch nicht essen darf. es schleicht beispielsweise mit dem rolli ins schwesternzimmer und klaut dort die bonbons aus der schale oder plündert die vorräte seiner mitpatienten im gemeinschafts-kühlschrank. 

neulich hat es angeblich eine ganze palette milchreis, eine packung windbeutel und einen muffin gestohlen - und es geschafft, alles zu verdrücken, bevor es erwischt wurde. dabei hat es eine riesensauerei veranstaltet, weil ihm ein löffel fehlte und es sich den milchreis mit den fingern reinschaufeln musste.

um sowohl die mitpatienten als auch das objekt vor diesen fressexzessen zu schützen, haben die pfleger nun ein zahlenschloss am kühlschrank angebracht.

"wie ist denn aktuell so die prognose", frage ich.
"der arzt damals im krankenhaus sagte, was nach drei jahren nicht da ist, kommt nicht mehr. die haben wir ja nun längst voll. ein anderer arzt sagte, fünf jahre. aber wir bleiben einfach dran und stemmen uns dagegen."
"mir scheint, in den dreieinhalb monaten jetzt ist mehr passiert als in all den jahren zuvor."
"den eindruck habe ich auch. es ist wirklich eine gute pflegeeinrichtung."
"das ist bestimmt auch der intensive kontakt zu seiner familie", sage ich.
"sicherlich", antwortet die mutter. "es ist aber schön, dass auch du den kontakt noch immer hälst. das freut mich wirklich."
 
nun ist mir warm ums herz.
 
und die mama berichtet weiter:
"gestern habe ich übrigens mit seiner pflegerin telefoniert, die sagte, da sei ein päckchen angekommen mit so einem schönen brief drin. der war von dir. sie haben ihm den erstmal vorgelesen - und er hatte tränen in den augen dabei. er hat den brief bei sich behalten und ihn immer wieder gelesen."

schwuppdiwupp bin ich selber wie vom blitz getroffen und merke, wie sich eine sturmflut hinter den augäpfeln formiert.

"was machste nochmal beruflich", fragt mich die objekt-mama nach einer kleinen pause, in der ich an meiner rührseligkeit schlucke.
"schreiben" antworte ich.
"das erklärt einiges."
"das objekt hat immer gesagt, wenn du aufhörst zu schreiben, kriegst du es mit mir zu tun."

beseelt lege ich später den hörer aus der hand.

und die alte nutte hoffnung tanzt.
zu einem lied, das wir noch nicht kennen.

7 Kommentare:

  1. das sind SO schoene Nachrichten.
    Die Objektmama ist ne tolle Frau. Und Du auch! <3

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. danke! <3 das kompliment kann ich aber so zurückgeben, meine liebe.

      ich bin jedenfalls gerade dermaßen glücklich. nach dieser langen, schlimmen zeit. es wird zwar mit nahezu hundertprozentiger wahrscheinlichkeit nie normalität geben. aber wieder ein ganzes stück lebensqualität.

      ich schätze die objekt-mama auch unfassbar. vor der habe ich richtig respekt. also so einen schönen, warmen respekt.

      Löschen
  2. Ich finde auch, dass das absolut tolle Neuigkeiten sind! Allein die Darstellung vom Klauen, das ist fast schon wieder niedlich und mein Kopfkino dreht grad voll durch dabei ;)
    Das Objekt kommt zurück ins Leben und das ist ganz viel mehr, als Ihr bis vor nicht all zu langer Zeit noch erhofft hattet. Er kann wieder allein essen und sich von A nach B bewegen - Mensch, was sind DAS echt für Nachrichten!! Nach all dem, was Du bisher so erzählt hast.
    Ich freu mich wirklich sehr - für ihn, für seine Mama und auch für Dich <3

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. danke dir! :-) ich bin super glücklich und dankbar, das trägt mich derzeit richtig durch diese dunklen novembertage!

      im sommer sah es wirklich noch ganz anders aus. wegen corona waren lange keine besuche möglich und in dieser zeit lag das objekt viel zu viel im bett und war alleine. ich war ein paar mal zu besuch (das war mit termin irgendwann wieder möglich) und da war das objekt immer sehr passiv. einmal wollte es sogar niemanden sehen und lieber schlafen. die pfleger hatten das auf die hitze geschoben, aber ich war ja auch schon im sommer 2019 da - und da war es nicht so.

      es lag sicherlich auch daran, dass seine freundin, die gespielin in meinen texten, sich anderweitig verliebt hatte und nicht mehr zu ihm kam. das muss irgendwann 2019 passiert sein. sie hatte mir damals teils ganz ungewohnte nachrichten geschickt, sowas wie "kannst ihn ruhig öfter besuchen". da hab ich das bereits geahnt.

      es ist sehr gut, dass seine mutti das nun in die hand genommen hat. ich bin auch so erleichtert, dass ich mich nicht mehr mit der gespielin rumschlagen muss.

      Löschen
    2. p.s.: zum thema klauen - seine mutti findet das weniger gut. zum einen, weil sie dann jedesmal lostigern und die geklauten lebensmittel ersetzen muss. zum anderen ist sie ein bisschen entsetzt und sagt ihrem sohn immer:
      "aber du bist doch kein klauer!"
      und er dann so: "ich weiß, aber ich MUSSTE irgendwie."

      ich fand diese story auch göttlich.

      Löschen
  3. ich lese dich und deinen blog jetzt schon ein paar jahre; immer still und passiv, aber stets neugierig, mal mitfühlend, mal belustigt. Aber dieser eintrag hat wirklich für freuden-pipi in den augen gesorgt! Man hört fast, wie die steinchen (wenn auch nur kleine) von der seele purzeln und wie gut dir dieser kontakt tut.

    und sind wir mal ehrlich, wer kann es dem objekt verübeln, dass da dieses "müssen"-gefühl beim essen ist, hat es doch offenbar nachholbedarf beim geschmacklichen essen nach all diesen jahren :)

    ich wünsche dir und dem objekt alles gute, wie auch immer sich eure weitere verbindung entwickeln mag!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. vielen dank für diesen schönen kommentar und die guten wünsche. :-)

      ich habe der mama auch gesagt, dass ich das mit dem essen-klauen eher lustig und verständlich als schlimm finde. wie gesagt, es ist etwas nervig für die mama, weil sie dann losrennen und alles neu kaufen muss. aber ich würde sicherlich auch fressen wie irre, wenn ich drei jahre lang nur nährflüssigkeit bekommen hätte.

      Löschen

danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.