Dienstag, 2. Januar 2024

lichtblicke

obwohl mein heimaturlaub diesmal eher von not, wahnsinn und hilflosigkeit geprägt ist, bin ich wieder einmal erstaunt, wie gut mein gewachsenes soziales netz hier trägt. damit meine ich nicht nur die freunde, die ich noch regelmäßig treffe. auch fast vergessene kontakte kann ich diesmal reaktivieren.

am freitag besuche ich eine nachbarin, die ich aus meinen kindheitstagen kenne. sie und ihr damaliger mann waren mir einst sowas wie ersatz-eltern. ich war bei ihnen immer willkommen. als zwischen unseren häusern noch keine zäune standen, schlich ich mich am wochenende oftmals schon in aller herrgottsfrühe hinüber - wohlwissend, dass der nachbar auch sonntags bereits ab 7 uhr wach war und wir zusammen sesamstraße gucken konnten. oder er lackierte sein neues altes auto und ich durfte ihm farben anreichen. die sportliche nachbarin brachte mir indes rollschuhfahren bei und backte mit mir ihren unvergesslichen apfelstrudel. als der nachbar mit nur 32 jahren an leukämie starb, zog die nachbarin leider weg. 

seit ein paar jahren jedoch bewohnt sie mit ihrem neuen lebensgefährten wieder ihr altes haus - und lädt mich ein, damit ich ihren süßen und noch sehr wilden welpen kennenlernen kann. und obwohl 35 jahre zwischen unserem letzten kontakt liegen, sind wir einander alles andere als fremd. schnell stellt sich die vertrautheit ein, die ich schon als kleines kind immer so genoss. 

"ich werde nie vergessen, als ich damals deine eltern besucht habe, um ihnen mitzuteilen, dass mein klaus nicht mehr ist", sagt die nachbarin lächelnd. "du saßt in eurer gerageneinfahrt und hast mit kreide auf die steine gemalt." 
ich erinnere mich sehr vage: "ja, ich glaube, ich habe blumen gemalt?" 
"du hast blumen gemalt, ein haus und wolken, und auf einer wolke saß klaus." 
"echt?"
"ja, ganz sicher. das weiß ich noch ganz genau."
"aber wusste ich damals denn schon, dass klaus gestorben war?" 
"nein, aber du hast das wahrscheinlich gespürt."

ähnlich wie beim objekt und mir ist der nachbarin noch der kontakt zu den eltern geblieben. so kümmert sie sich bis heute um die inzwischen demente ex-schwiegermutter, wickelt deren bankgeschäfte ab und organsiert alles, was sie im pflegeheim braucht.

"das steht mir jetzt wahrscheinlich auch alles bald bevor. meine mutter ist ja noch fit, aber..."
"ja, dein vater... so schlimm", nicke die nachbarin.
"ich muss meine mutter künftig unbedingt mehr unterstützen. die ganzen versicherungs- und banksachen werde ich ihr wahrscheinlich komplett abnehmen, damit fühlt sie sich unsicher."
"wenn du da mit irgendwas hilfe brauchst, sag einfach bescheid."
erleichterung durchströmt mich - ähnlich wie früher in einer objektiven umarmung.
"danke. ich bin sicher, ich werde drauf zurückkommen. ich hab ja noch überhaupt keine vorstellung von all dem."

gestern dann habe ich eine verabredung mit meiner sandkastenfreundin n. unsere eltern pflegten zu kindergartenzeiten eine art zweck-bekanntschaft (kinder abwechelnd im kindergarten abliefern und später wieder abholen). meine damalige beziehung zu n. könnte man als intensive hassliebe bezeichnen - zweitweise spielten wir sehr gerne miteinander, waren aber auch immer wieder zutiefst zerstritten. als ich mit meinen eltern 3 km weiter in einen vorort zog, wurden wir jedoch beste freundinnen, die einander sehr vermissten und sich regelmäßig besuchten. nach dem abi schlief die freundschaft langsam ein: ich war bereits in die nachbarstadt gezogen, hatte eine beziehung und studierte, während n. - ein jahr später eingeschult als ich - noch zur schule ging und bei ihren eltern wohnte. mein umzug nach kackstadt gab uns dann den rest.

in den letzten monaten träumte ich plötzlich mehrfach von n. und weil ich träume so inspirierend finde, beschloss ich, ihr über unsere eltern liebe grüße und meine telefonnummer zu übermitteln. ich hatte mit nicht viel gerechnet - aber die rückmeldung kam prompt und mit unerwartet hoher begeisterung, was mich ungeheuer freute. 

wir treffen uns in der innenstadt. obwohl wir uns 20 jahre oder so nicht gesehen haben, erkennen wir uns sofort. n. strahlt immer noch so fröhlich wie früher und steckt mich wie schon damals sofort mit ihrem schlagfertigen humor und ihrer herzlichkeit an. wir suchen uns ein café und reden viel über unsere eltern. n. erzählt mir von ihrem vater, der einen herzstillstand erlitten hatte und fast gestorben wäre. nach wochenlangem koma machte er vor einem jahr die ersten kleinen schritte ins leben zurück. 

"wenn man den heute auf den ersten blick sieht, merkt man dem echt nix an", erzählt n., "aber so im alltag... so richtig viel bekommt der nicht mehr mit. er vergisst ständig alles, und manchmal denke ich, alles zieht an ihm vorbei."
"trotzdem, eigentlich ein wunder. der hätte auch wachkoma-patient werden können. oder so lauch im rollstuhl wie das objekt."
ich gebe eine kurze zusammenfassung der objekt-story und ziehe die parallelen - langes koma, sauerstoffmangel im gehirn, probleme mit dem kurzzeitgedächtnis.
"bei meinem vater ist das aber auch ähnlich", erzähle ich dann. "der schläft dauernd im sitzen ein und wenn man was sagt, weiß man nie, hat er das noch gehört oder nicht. man hat den eindruck, er lebt teilweise nur noch so in seinem kopf, ohne zeitgefühl oder ziele im alltag. ich habe gelesen, dass das symptome von demenz sind."

"das ist schon komisch, wenn eltern alt werden", fasst n. zusammen. "mir tut immer meine mutter leid, die ist ständig am brennen, weil sie jeden scheiß organisieren muss."
"ist hier ähnlich", erwidere ich. "wobei meine eher verbittert. ich glaube, sie nimmt dieses schicksal teilweise so wie eine persönliche beleidigung auf. ich kann das aber auch nicht alles auffangen, ich bin ja keine psychotherapeutin."
"nee, das geht nicht. ich bin zwar jede woche da, weil wir nur ein paar straßen voneinander entfernt wohnen, aber ich habe ja auch ein eigenes leben."

das treffen tut mir gut, merke ich. ich fühle mich wie aufgeladen, beschwingt und weniger hoffnungslos, fast als ob n.s offensichtlich gut ausgeprägte resilienz auf mich abfärbt. als ich das erste mal auf die uhr schaue, haben wir schon vier stunden verquasselt. "fuck, ich muss heim, ich muss noch mit meinem vater seine übungen machen", sage ich. "sonst erzählt er mir wieder, dass es zu spät und er müde ist. "
"ja, ich muss auch los, ich muss morgen leider arbeiten", sagt n.

als ich froh gestimmt zuhause ankomme, erlebe ich noch eine positive überraschung: mein vater hat schon mit seinen übungen angefangen, ganz ohne mehrfache aufforderungen und arschtritte. 

vielleicht wird 2024 doch ganz ok, wer weiß. 

2 Kommentare:

  1. Ich wünsche Ihnen dreien, dass Ihrem Vater noch lebenswerte Zeit verbleibt.
    Sie werden irgendwann Entscheidungen treffen müssen, haben die Eltern Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten erteilt?
    Meine Mutter hatte nichts dergleichen. Auf den Rat einer befreundeten Sozialarbeiterin hin hat sie mir eine vom Notar beglaubigte Generalvollmacht unterzeichnet. So war ich handlungsfähig, die musste jede Bank, jedes Amt akzeptieren, was alles unglaublich leicht machte. "Sonst musst du jedes Radl Wurst abrechnen" so die Freundin (falls man die Betreuung übernimmt).
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  2. danke! nein, ich finde den kommentar vollkommen in ordnung und überhaupt nicht übergriffig. :-)
    laut statistik bleiben uns noch 1,5 bis 6 jahre miteinander, hoffentlich möglichst lange in halbwegs guter verfassung.
    ja, ich habe vorsorgevollmachten und seit einer woche auch eine kontovollmacht. sie haben auch beide medikamentenlisten, die sie in ihrem portemonnaies tragen. dazu habe ich ja schon viele gute tipps hier erhalten. :-)

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danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.