Samstag, 27. März 2021

der nette arzt und anderer wahnsinn

seit letztem sommer warte ich auf eine gelegenheit, meine familie wieder zu sehen. dies wäre nicht nur notwendig, um meine immer irrationaler werdenden eltern davon abzuhalten, ihr vermögen aufzulösen und in form vom bargeld im keller zu lagern. es ist auch sehr anstrengend, wenn papa einem permanent hinterhertelefoniert, weil "da ist so ein graues kästchen auf dem pc, da weiß ich jetzt nicht". (werbung, papa, wegklicken und weitermachen!)

just in diese hoffnungslosigkeit hinein funkt mein cousin, der mich die tage in meinem wirtschaftsasyl besuchen kommen möchte. ich freue mich unendlich und habe eine idee: 
"kommst du mitm auto? weil dann könntest du mich ja mit zurücknehmen. dann besuche ich gefahrlos meine eltern. die heimreise werde ich dann schon irgendwie überleben."
"eigentlich wollte ich fliegen, aber wenn du das möchtest, nehm ich das auto! ist vielleicht auch besser wegen der ansteckung."
mein cousin ist unkompliziert und sehr entgegenkommend, worin er sich vom rest meiner familie stark unterscheidet. 
 
als ich meinen vater anrufe, um ihm von meiner genialen idee zu berichten, ist er überhaupt nicht begeistert:
"das geht nicht, da wird deine mutter operiert."
ich falle aus allen wolken: "operiert?! wieso? was ist los? davon weiß ich ja gar nix!"
"ach, sie wollte sich doch schon so lange die knie opieren lassen. wegen der x-beine."
"hat sie denn so schlimme schmerzen auf einmal?"
"nein, gar nicht. aber sie will das jetzt eben."
"gib mir mal die mama, bitte", sage ich konsterniert.

meine mutter ist fröhlich und aufgeräumt am telefon.

"versteh ich das richtig, du willst dir aus kosmetischen gründen JETZT künstliche gelenke einsetzen lassen?"
"naja, manchmal scheuert das schon ein bisschen inzwischen! so nach dem aufstehen..."
"aber du hast keine schmerzen?"
"naja, schmerzen.... das nun nicht."
"also kosmetische gründe. und warum jetzt? ist dir bewusst, dass du möglicherweise nicht so gut versorgt wirst, wenn es bei deiner op eine komplikation gibt und du auf die intensivstation musst? du bist über 70, das ist nicht soooo unwahrscheinlich bei einer so großen op!"
"naja..."
 
"was sagt denn der arzt dazu? der muss doch auch sehen, dass das eine nicht wirklich medizinisch nötige große operation bei einer älteren frau mit vorerkrankungen ist!"
"der war SO nett zu mir!"
"das ist ja schön, aber der zeitpunkt scheint mir falsch."
"der arzt hat gesagt, dass es genau die richtige zeit dafür ist!"
 "ja, das kann ich mir vorstellen. für ihn ist das der perfekte zeitpunkt, weil er wegen covid gerade nicht so viele ops machen kann und er unheimlich gern mit einer privatpatientin dick kohle machen würde!"
"das glaub ich nicht! der war SO NETT!"
 
ich seufze und sehe ein, dass ich gegen die meinung des nettes arztes nicht anstinken kann.
"kannst du dich wenigstens vor der op impfen lassen?"
"das weiß ich nicht."
"hast du da mit dem ach so netten arzt nicht drüber gesprochen?"
"nein. darum gings doch gar nicht. und vielleicht geht das ja auch gar nicht, also impfung UND op."
"mama, sowas muss man doch vorher abklären! beziehungsweise ist es die unbedingte pflicht des arztes, dich umfassend über dieses thema zu informieren! allein daran siehst du schon, was für ein geldgieriger quacksalber das ist!"

"du kannst ja gerne wannanders kommen", meint meine mutter dann großzügig-versöhnlich.
"wannanders geht nicht, weil ich dann keine mitfahrgelegenheit habe. aber das ist jetzt auch zweitrangig. ich hab einfach kein gutes gefühl dabei, wenn du dich jetzt operieren lässt. du hast danach auch reha. da kommst du wieder mit vielen menschen zusammen."
"die mach ich ambulant!"
"trotzdem kommst du da täglich mit anderen patienten und den physiotherapeuten in kontakt!"
"ich kann doch eine maske aufsetzen."

ich gebe auf.
"und was sagt dein alltagsbewanderter gatte dazu, wenn er eine woche alleine zuhause ist? der kann sich doch nicht mal ein spiegelei braten!"
"ich hab schon gesagt, der soll sich dann essen bestellen. so im internet! so wie du immer!"
 
ich freue mich unendlich. es stehen mir also nun auch noch stundenlange telefonate bevor, bei denen ich meinen vater erkläre, wie man im internet essen bestellt. und vor allem, warum danach keine schwerverbrecher vor der haustür aufkreuzen und warum die daten auch nicht sofort an böse hacker weitergegeben werden, die ihm das konto leerräumen.

"ich muss dann mal weitermachen", sage ich.
"was musst du denn machen", fragt mich meine mutte nicht uninteressiert.
"arbeiten, mama. wie immer."
"ach ja! dann ist es ja vielleicht gut, wenn du gar keinen urlaub nehmen musst wegen uns!"

ich verschweige, dass ich noch 12 tage resturlaub aus 2020 habe und lege auf.

die nächsten wochen könnten nun sehr, sehr anstrengend werden. ich hoffe nur, dass sie nicht auch noch sehr, sehr traurig werden.
 

Samstag, 6. März 2021

der tag der toten taube

am samstag will ich einkaufen gehen. als ich richtung edeka schlendere, laufe ich in drei frauen rein. zwischen ihnen liegt etwas kleines graues auf dem boden.

eine taube. eine noch recht junge. ein bisschen strubbelig und mit daunen zwischen den dunklen federn. sie hat den kopf verdreht und viel zu weit in den nacken gelegt. sie sitzt nur da und beobachtet in einäugiger vogelmanier ihr publikum.

"wasn hier passiert", frage ich eine der frauen.
"ich glaube, die ist verletzt oder so", sagt sie.
die andere frau telefoniert. 
"polizei oder süderstraße sollen wir sie abgeben, sagen die", sagt sie, als sie auflegt.
"wo ist denn die süderstraße", fragt eine.
"das geht nur mit auto", sage ich. "das ist ganz im osten. ich hab einen katzentransportkorb, den könnte ich holen, dann packen wir sie da rein. nur ein auto hab ich nicht."
"nee, das geht nicht, so viel zeit hab ich nicht", sagt die telefon-frau und die anderen nicken traurig.
 
"dann nehm ich sie mit", sage ich spontan und ohne groß zu überlegen.
ich nehme meinen weichen wollschal und wickle ihn sanft um die junge taube. die versucht erst wegzuflattern, aber ich erwischte sie gut und halte sie sicher. und los geht es.

auf dem weg nachhause mit taubi im arm rattert mein kopf. was mach ich jetzt? verletzte wildtiere kann man zum tierarzt bringen. meine alte tierklinik wäre eine option, die sind auch samstags da. aber die klinik ist fast eine stunde mit dem rad entfernt. das überlebt taubi wahrscheinlich nicht.

da fällt mir m. ein. m. habe ich im sommer beim katzensitten kennen gelernt. sie ist so tierverrückt wie ich und hat schon mal kranke tauben aufgenommen. vielleicht hat sie eine idee.

zuhause hole ich erstmal den katzenkorb, lege tücher rein und setze den gefiederten kleinen patienten dort hinein. die tücher werden mirnixdirnix blutig. auch am schal entdecke ich blut. auweia. wo kommt das alles her? 

ich inspiziere taubi und entdecke eine wunde am kopf. am flügel ist ebenfalls blut, aber das lässt sich abwischen. wahrscheinlich ist es vom kopf und hat sich beim flatterversuch dahin verteilt.

ich rufe m. an. 
"kannst du sie vorbeibringen?" fragt sie, als ich die lage schildere. "ich hab sowieso gerade wieder eine taube in pflege, die hat ne dicke hüfte. dafür hab ich schmerzmittel, davon kann ich deiner was abgeben. so muss sie sich wenigstens nicht quälen. dann schauen wir mal."
"ich bin in 10 minuten da", sage ich.
"super."
 
"ooooh, die ist ja noch ganz klein", sagt m., als wir den katzenkorb öffnen. "ist die angefahren worden?"
"weiß nicht, ich war ja nicht dabei. vielleicht ist sie auch wo gegengedonnert. allerdings sind da keine scheiben in der nähe gewesen."
"meh. scheißleben."
 
m. ist herrlich lakonisch. das mag ich an ihr. behutsam holt sie taubi aus dem kennel. dabei nimmt sie eines der tücher mit und bedeckt die augen der taube.
"wenn vögel nix sehen, sind die entspannter", erklärt m. dann zieht sie die pipette mit dem schmerzmittel auf und tröpfelt ein wenig davon in taubis schnabel.
danach dreht sie die tücher zusammen und formt einen donut. "da kann die so sitzen, dass sie besser atmen kann."
 
taubi guckt sehr gechillt, als die schmerzmittel wirken. sie sitzt ganz ruhig in ihrem weichen nest.
"ich weiß nicht, ob  die durchkommt", sagt m. "die kopfverletzung ist heavy. sonst wirkt die aber gut genährt und oberflächlich unversehrt. ist jetzt eine frage des glücks."
 
da m. mit einem wildvogelverein in kontakt steht, ruft sie dort die ärztin an, ob wir unseren findlings vorbeibringen können. die ärztin fordert ein video an, um sich ein bild machen zu können.
"leider nicht transportfähig", sagt m., als sie auflegt. "wir sollen taubi hier ein ruhiges plätzchen geben und abwarten. es kann aber sein, dass sie die nächsten stunden nicht überlebt. die kopfverletzung hat wohl zu einem schädelhirntrauma geführt, das heißt, das gehirn schwillt jetzt stark an."
 
die sache mit dem schädelhirntrauma verfolgt mich offenbar. wenigstens liegt der unfall beim objekt inzwischen soweit in der vergangenheit, dass es mit hoher wahrscheinlichkeit nicht plötzlich sterben wird. 
 
drei, vier stunden lang scheint alles in ordnung zu sein. dann bekommt unser kleiner patient zuckungen. das atmen fällt ihm sichtlich schwerer. m. telefoniert noch einmal mit der ärztin und verabreicht taubi dann eine elektrolytlösung und noch ein tröpfchen schmerzmittel. 

doch es sieht nicht gut aus. taubi macht noch einige tiefe, schwere atemzüge, dann schließen sich die äuglein. unser findelkind tritt seine letzte reise an. 

viele menschen sagen, tauben seien nichts anderes als ungeziefer. dabei sind sie sehr klug und können sich ähnlich wie raben sogar gesichter merken. nur, weil sie nicht so klein und niedlich wie meisen oder rotkehlchen sind, werden sie gehasst.

auch ich habe als kind verinnerlicht, dass tauben die ratten der lüfte seien, dass sie sich zu stark vermehren und milben und andere ekelhaftigkeiten verbreiten. doch als taubi da so friedlich in ihren tüchern liegt, empfinde ich nichts als traurigkeit. ich hätte ihr ein schönes, langes taubenleben gewünscht.

vielleicht fehlt mir die ehrfurcht vor meinem eigenen leben. aber was das der anderen betrifft, ist sie intakt. ich bin zudem dankbar, dass mir m. geholfen hat. ich habe eine zarte verbundenheit gespürt, die der beginn einer freundschaft sein könnte. 
 
all das verdanke ich einer toten taube. die jetzt hoffentlich im ewigen körnerparadies chillt.