vor ort ist es ein durchschnittlicher tag. der aufenthaltsraum ist mittel voll, mittel viele besucher, mittel viel trouble, mittel viel stress für die pfleger. für das objekt ist es ein eher schlechter tag. die erinnerung hakt, es erkennt mich erst nicht, kann aber mit meinem namen etwas anfangen. ich habe begonnen, unsere begegnung vom ersten tag an haarklein zu papier zu bringen und lese ihm wieder vor.
"und wie ist das, wenn die frau, der du das herz geklaut hast, ihre memoiren über dich schreibt wie über einen berühmten star?" frage ich zwischendurch.
"schööööööööön..." macht das objekt indifferent und guckt wieder wie ein kleinkind im buggy, wenn sich ein fremder drüber beugt. interessiert, neugierig, gut unterhalten, aber ohne richtige emotionale verbindung.
"obwohl, könnte auch peinlich werden, wenn deine mutter dann irgendwann liest, wie ich dir einen blase", kichere ich.
schweinereien findet das objekt immer noch klasse und es lacht schallend.
ich kann erinnerungen wecken, aber ich kriege das objekt heute nicht ganz. ich merke es an den blicken, die mir signalisieren, dass der kopf gleich heißläuft, weil die erinnerungen eher blass sind und das objekt alles gibt, um in den hintersten ecken des gedächtnisses zu kramen. ich fühle es außerdem in seiner umarmung, die nicht so lang und leidenschaftlich ist wie sonst.
"ich... bin.... müde", sagt das objekt angestrengt nach 45 minuten.
"du guckst auch ganz glasig", sage ich. "soll ich wieder gehen?"
"ja."
"ok, dann hau ich mal ab, damit du schlummern kannst."
ich stehe auf und hole die jacke.
"nein", stoppt mich das objekt.
ich halte inne:
"soll ich bleiben?"
"ja!"
ich setze mich wieder.
"ist das gut, dass ich heute gekommen bin oder nervt dich das eher?" frage ich.
"gut", sagt das objekt und lächelt.
ich bin erleichert, zur höflichen notlüge fehlt ihm gottseidank die berechnung.
"dann bleib ich jetzt noch ein halbes stündchen, ok? ruh dich doch ein bisschen aus."
das objekt nickt und macht die augen zu.
dann macht es die augen wieder auf und guckt mich gestresst an.
"alles klar bei dir?" frage ich.
"nein."
"was ist denn? bist du traurig?"
"müde..."
es hat keinen sinn. wenn ich da bin, versucht das objekt mit gewalt, wach zu bleiben.
also packe ich doch meine sachen und drücke das objekt ein letztes mal.
der dorf-bus ist gerade vor einer minute abgefahren. ich habe die wahl, eine stunde warten oder 50 minuten laufen. ich entscheide mich fürs laufen, weil es gerade mal nicht regnet. am bahnhof stehe ich noch mal eine ewigkeit herum, weil der zug richtung hamburg verspätung hat. ich sehne mich nach wärme und einem sitzplatz.
dann bin ich endlich zuhause. schnell duschen, tasche umpacken und loshetzen zum luxus-mann. eigentlich hab ich jetzt überhaupt keinen bock auf kind, aber so kurzfristig absagen finde ich doof. die kleine freut sich außerdem total auf mich. das merke ich daran, wie sie den summer ein ewigkeit lang drückt, als ich klingle. dann werde ich auch schon ohne punkt und komma vollgeblubbert: dass ihr bruder heute doch nicht kommt, weil er erkältet ist, und dass wir deswegen nur zu dritt spielen, und was wir jetzt alles an spielen spielen könnten.
ich setze mich erstmal in die küche. ich habe das gefühl, ich bekomme fieber. der kopp glüht und wiegt eine gefühlte tonne. der luxus-mann schaut mich kritisch an:
"na, wie wars? irgendwelche fortschritte?"
ich schüttle den kopf.
"war heute wieder schwierig. erinnerung schleppend, und saumüde war er."
"wer denn?" kräht die luxus-tochter, die in die küche geschossen kommt.
"die morphine besucht immer ihren behinderten freund", fasst der luxus-mann die situation lakonisch zusammen.
"wie behindert ist der denn?" fragt die tochter fasziniert.
"behindert ist ein scheißwort", sage ich. "der ist nicht doof oder so."
"naja, doch!" wirft der luxus-mann ein.
"er versteht alles, was man ihm erzählt, und das ist dann für mich nicht doof."
"kann er denn nicht laufen", will die luxus-tochter wissen.
"nee", sage ich. "und auch nicht schlucken. das heißt, er kann auch nicht essen. und er kann sich an manches nicht mehr erinnern."
"dann ist er schon ein kleines bisschen behindert", sagt die luxus-tochter ernsthaft und diplomatisch.
ich muss lachen.
"dann ist dein papa aber auch behindert, so viel, wie der immer vergisst."
"jaaahaha, das stimmt", kichert die luxus-tochter.
"ey", sagt der luxus-mann. "ich esse meine schokoküsse hier gleich alle alleine."
und er stellt zu unserem entzücken eine schachtel schaumküsse auf den tisch.
als ich mich später neben dem mann ins bett kuschle, spüre ich eine tiefe ambivalenz. der tag war schön und anstrengend und deprimierend zugleich. ich bin erschöpft, aber ohne leer oder verzweifelt oder hoffnungslos zu sein. ich habe viel gegegeben, bin aber auch beschenkt worden, weil ich die zwei wichtigsten menschen in meinem leben um mich haben durfte.
ich bin dankbar dafür, auch wenn ich mir oft wünsche, dass es dem objekt endlich besser geht, oder dass der luxus-mann mal ein bisschen einfühlsamer ist. aber ich darf diese menschen kennen, und sie lieben mich. das ist wunderbar.