Donnerstag, 2. Oktober 2025

fluchtpunkte

ich bin erneut in der heimat, um mit notarieller hilfe eine menge kram geregelt zu kriegen. das haus ist - generalvollmacht und mutti sei dank - seit gestern auf dem papier mein. vorausgesetzt, es bleibt noch alles mindestens 10 jahre wie es ist. ich bete, dass wir auf absehbare zeit keinen zweiten pflegeheimplatz benötigen, vor allem nicht parallel zu meinem vater. (wahrscheinlich hört mr. murphy schon wieder mit, aber: fick dich, mr. murphy.)

mein vater hat mangels realistischer selbsteinschätzung damit gerechnet, im oktober das heim zu verlassen und wieder zuhause leben zu können. dass dem nicht so ist, frustriert ihn sehr. alle paar stunden ruft er an und erzählt die immer selben dinge, die ihn stören: dass die pfleger ihn immer punkt 12 zum mittag holen. dass man ihn schon abends um 7 bettfertig macht. und dass ihm langweilig sei.

normalerweise versuche ich, therapeutisch wertvoll und empathisch auf meinen vater einzugehen. aber es kommt leider nie etwas an. die geschichten wiederholen sich einer endlos-schleife. heute ist das mitgefühl-maß dann mal voll und ich gehe ungebremst an die decke. ob er sich mal eine vorstellung davon macht, wie es mir oder meiner mutter mit der situation geht, frage ich. dass er froh und dankbar sein kann, dass er nicht in einem mehrbettzimmer am ende der stadt gelandet ist, sondern in einem komfortablen neubau-einzelzimmer in nächster nähe, wo er immerhin fast täglich besuch von muttern erhält. die ihm zudem nach wie vor seine vollgepissten hosen wäscht, um angesichts der exorbitanten heimrechnungen wenigstens die wäscherei-pauschale zu sparen. und dass ich nur deshalb die ganzen finanzen und diesen pflege-bürokratie-irrsinn einigermaßen manage, weil mir jeden tag eine handvoll antidepressiva den kopf irgendwie ein stück weit freihalten.

"ich erwarte ja keinen dank oder dass du das heim am ende irgendwie schön findest", schließe ich meine kleine rede. "aber ein wenig respekt und dass du auch mal fünf minuten an andere denkst! du hast deine situation mit deiner faulheit maßgeblich mitverschuldet - und wir müssen es genau so ausbaden wie du."

ich spüre, wie die liebe zu meinem vater schwankt. die vorstellung, dass er sterben könnte, hat dadurch in überraschendem ausmaß an schrecken verloren. abends sitze ich über den alten familienalben. ich sehe mich auf den bildern - als baby, sicher und geborgen im arm meines vaters. seine weichen gesichtszüge hinter dem bart, das glückselige lächeln, voller vaterstolz. wo ist dieser mensch hingegangen? wann sind ihm jegliche gefühle so abhanden gekommen? ist das alles die demenz? oder war er schon immer irgendwo so - und jetzt fällt nur alters- und krankheitsbedingt die maske?

um mir angesichts meines kummers angenehme abwechslung zu verschaffen, versuche ich, auch diesmal ein treffen mit dem ex-herzensbrecher zu arrangieren. der signalisiert mir, dass das leider sehr unwahrscheinlich sei, da er irrsinnigen stress mit seiner firma hat. aber dann kommt doch noch eine nachricht - sehr kurzfristig, knapp, nur uhrzeit und treffpunkt.

"ich hab eigentlich überhaupt keine zeit", sagt er, als er aus dem wagen steigt und mich umarmt. "aber das war mir jetzt komplett egal." 

gibt es ein schöneres kompliment als derart klare prioritäten?

wieder wandern wir feldeinwärts an unserem lieblingsort. dabei erzählt er mir vom firmen- und familienwahnsinn, und ich berichte von meiner nun doch erfolgreichen, wenn auch nicht wirklich glücklichen jobsuche. danach kommen wir auf das thema beziehung zu sprechen - und ich reiße an, dass ich mich derzeit mal wieder weniger in meiner partnerschaft sehe und über eine zukunft keine prognose wage.

"bei meiner frau und mir... da würde jetzt auch keiner mehr behaupten, dass wir noch das harmonische paar sind, das wir mal waren", berichtet er. "aber das will ich ihr nicht übel nehmen, sie hat eben ein sehr schweres gesundheitliches schicksal. das verändert auch die beziehung."

um nicht im schwierigen familienleben aufgerieben zu werden, verschafft sich der ex-herzensbrecher fluchtpunkte. ein berater-vertrag wird ihn auch künftig noch die welt bereisen lassen, und ein ferienhaus an der französischen küste hilft ihm, abstand zwischendurch zu gewinnen. sein glück ist, dass er das nötige kleingeld dafür hat.

"da kommt man übrigens super auch ohne auto oder flieger hin", ergänzt er zum thema ferienhaus. "mit dem flixbus geht das von hier aus schon für 20 euro." 
"hör auf, mir sowas zu erzählen, sonst komm ich noch auf dumme ideen, setze mich in einen flixbus und klingle bei dir", scherze ich.
"wenn meine frau nicht da ist, ginge das sogar", sagt er leichthin. "ansonsten... vielleicht komme ich auch mal nach hh, so als berater."

wir steigen zusammen über die mit hohem gras bewachsenen hügel.
"wenn ich hier einen guten job bekäme, würde ich inzwischen ja zurückkommen", sage ich spontan.
"echt? das wäre aber schön!" 
das klingt euphorischer als ich angesichts unserer komplexen vorgeschichte erwartet hätte.
"vor unserem letzten treffen war ich mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob du den kontakt zu mir noch bzw. wieder willst", sage ich.
"doch, auf jeden fall", meint er. "ich treffe mich immer gerne mit interessanten menschen. es war nur so... diese zehn jahre dazwischen, in denen wir uns nicht gesehen haben... da ist so viel passiert. ich hab die zeit gar nicht gespürt. und du bist ja auch... so unverändert. aber das hab ich dir ja schon letztes mal gesagt."

wir stehen noch eine weile an der kleinen brücke in der sonne und schauen aufs wasser.
"hast du eigentlich was aus deinem schreiben gemacht?" fragt er. "bzw. schreibst du überhaupt noch?" 
"schon", sage ich. "ich fange immer an mit großen ideen und dann verliere ich die lust. und denke, eigentlich habe ich in wirklichkeit gar nichts zu sagen. wahrscheinlich ein adhs-ding. die ewige unvollendete oder so."
"ich wollte immer gern einen besonderen stil oder so entwickeln. also wirklich kunst mit sprache machen."
"dafür bin ich inzwischen viel zu pragmatisch. ich will nur dieses übermaß an intensiven gedanken, gefühlen und erlebnissen irgendwie loswerden. sonst erdrückt es mich. schreiben ist für mich eher eine art... überlebensnotwendige maßnahme."
"das ist ja vielleicht auch eine kunst... so ungekünstelt zu sein", findet er. 

als ich später nachhause radle, bin ich für einen moment richtig glücklich. zwar habe ich kein ferienhaus und keinen hochdotierten, internationalen berater-job. aber ich habe spannende verabredungen wie diese als fluchtpunkte.

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