Mittwoch, 29. Dezember 2021

harcore aging

irgendwann vertauschen sich die rollen. irgendwann werden die eltern wieder zu kindern und die kinder zu eltern.

so ähnlich erlebe ich es derzeit bei meinem heimatbesuch. 

booster sei dank hab ich todesmutig eine bahnfahrt gebucht und bin weihnachten südwärts gefahren. meine eltern sind 73, wer weiß, wie lange man sich noch hat.

früher holten mich meine eltern freudestrahlend mit dem auto am bahnhof ab. inzwischen steige ich in die s-bahn und fahre selbst aus dem zentrum weiter nach suburbia.

das auto holen meine eltern nur noch aus der garage, um zwei straßen weiter einzukaufen. wenn man bedenkt, dass mein vater einst ein begeisterter autofahrer war, der auch gern mal ordentlich aufs gaspedal trat, eine traurige entwicklung. aber auch keine allzu schlimme. wenigstens landet mein vater so nicht in einem schaufenster wie die othmarschener pfeffersäcke mit ihren fetten kindergrills.

die körperliche entwicklung meiner eltern ist gegensätzlich. meine mutter ist stolze besitzerin eines neuen kniegelenks und macht dafür tatsächlich mehrfach pro woche gymnastik und fährt rad. das zahlt sich aus. sie hat es geschafft, ihre mitpatienten, die teils erst zwischen 50 und 60 jahre alt sind, im fortschritt weit hinter sich zu lassen. sie ist insgesamt agil und auch im kopf jung geblieben.

mein vater hingegen geht krumm und krümmer. es scheint nur eine frage der zeit, bis er den 90-grad-winkel nicht nur sitzend, sondern auch gehend erreicht. jahrzehnte zwischen bett, couch//fernseher und kühlschrank haben seine muskeln vollkommen verkümmern lassen und dazu geführt, dass selbst die 300 meter zum arzt an der ecke eine qual geworden sind. 

"dein vater läuft ja viel schlechter als meiner mit über 80", sagte der luxus-mann im sommer schockiert. "der müsste jeden tag ne stunde spazieren gehen!" doch das kommt zu spät, viel zu spät. an spaziergänge ist nicht zu denken. für 500 meter braucht mein vater 20 minuten, und das ist maximum. danach muss er eine halbe stunde sitzen.

da er auch schmerzen hat, bekommt er physiotherapie, darüber hinaus fußpflege. beide dienstleistungen sind dringend notwendig, da mein vater nicht nur sport, sondern auch die pflege bestimmter körperteile für vollkommen überflüssig hält. dadurch kommen neue aspekte in sein leben, eine geradezu revolutionäre sache: er hat damit zwei soziale kontakte, die nicht meine mutter sind. das tut ihm gut und scheint ihm zu gefallen.

ein weiterer sozialer kontakt bin derzeit ich. sobald ich das zimmer betrete, werde ich gnadenlos niedergesabbelt. nicht, dass mein vater viel zu erzählen hätte. stattdessen werden die immer selben themen in verqueren endlos-spiralen abgespult. 

thema nummer eins ist, wie schlimm für ihn der körperliche verfall ist. weder meine mutter noch ich noch seine physiotherapeutin können ihm begreiflich machen, dass er ihn selbst immens beschleunigt hat. deshalb ist er auch nicht bereit, mehr als das absolut nötigste zu machen. wenn ich mir das gejammere eine weile angehört habe, verweise ich gern auf das objekt, das sich ohne selbstverschulden in einer viel schrecklicheren lage befindet. manchmal erdet das.

zweites thema ist die böse welt mit der bösen technik. ein sehr akutes problem, denn mein vater hat sich einen neuen rechner gekauft. seit zwei monaten rief er mich deswegen jeden zweiten abend an: soll er ihn wirklich kaufen? weil: der alte ist zwar 15 jahre alt und kaputt, aber vielleicht noch nicht kaputt genug (er lässt sich prinzipiell noch einschalten). 

als mein vater sich dann zum kauf durchgerungen hatte, fragte er mich ständig, ob er das gerät nicht besser wieder zurückschicken solle. weil: man kann ja nicht wissen! nie! nach einer stunde aufgeregter sabbelei waren wir dann immer soweit, dass er ihn doch behalten wollte - eine entscheidung, die 48 stunden später wieder stark angezweifelt wurde. was dann zu erneuten langen telefonischen diskussionen führte.

nun steht der rechner tatsächlich im zimmer. natürlich hat ihn bislang niemand angerührt, denn ähnlich wie beim drücken des roten knopfes einer atombombe könnte eine inbetriebnahme verheerende folgen haben. ich habe das schwarze baby in 5 minuten unter zahlreichen zwischen- und unkenrufen verkabelt und innerhalb weiterer 20 minuten in einen funktionsfähigen zustand versetzt. alles klappt reibungslos, das gerät schnurrt wie eine blitzmaschine. insgesamt ein guter kauf.

in den augen meines vaters ist natürlich NICHTS in ordnung. er diskutiert jedes update mit mir durch, will wissen, wozu das gut ist, ob man das WIRKLICH WIRKLICH WIRKLICH braucht und wie viel speicherplatz das genau wegnimmt (wir haben einen 500 gb rechner). jedes blinken führt zu einer million fragen und abstrusen theorien, warum das eventuell nicht richtig (= gefährlich) sein könnte. sehr viel sorge bereitet ihm zudem der gedanke, dass der computer ihm klammheimlich windows 11 oder eine zahlungspflichtige antivirensoftware installieren und in diesem zuge sein konto plündern könnte.

weil mein vater nur noch auf sich fokussiert ist, merkt er nicht, wann er nervt und dass er nervt. ich bewundere meine mutter, dass sie ihn noch nicht verlassen hat. vielleicht nimmt sie drogen oder hat einen heimlichen lover.

obwohl ich bisweilen schrecklich schrecklich genervt bin, verspüre ich auch liebe für meinen vater. auch wenn er nicht ein einziges mal nach meiner welt fragt und es ihn offenbar nicht weiter interessiert, wie es mir geht  oder was ich brauche, weiß ich, dass er im grunde seines herzens ein liebevoller mensch ist. völlig verkorkst, aber eben kein arschloch. entsprechend schwanke ich zwischen strenge und empathie, und wie immer sind solche ambivalenzen emotional erschöpfend.

hardcore aging bedeutet hardcore geben. menschen, die demenzkranke angehörige betreuen müssen, kennen das sicherlich in noch ausgeprägterer form.

morgen geht es zurück in mein wirtschaftsasyl. ich bin traurig wie immer, aber auch ein wenig erleichtert. ich habe in diesen 6 tagen wieder einmal besser verstanden, warum ich bin wie ich bin und mich ebenfalls gerne selbst sabotiere. auch wenn ich bei mir immer noch manchmal nicht genau weiß, wie ich mich besser regulieren kann - zumindest habe ich anscheinend noch rechtzeitig den handlungsbedarf erkannt und konsequenzen gezogen. mein vater bräuchte psychotherapie. aber ich denke nicht, dass er verstehen würde, warum.

ich wünsche mir  von mir von herzen, dass meine kleine fränkische kindheitswelt noch steht, wenn ich das nächste mal hinfahre. und ich hoffe, dass das nicht wieder ein jahr lang oder so dauern muss. ich bin jetzt die mutti, und irgendwie werde ich mich in diese rolle einfinden.

2 Kommentare:

danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.