Sonntag, 19. September 2021

das herz ist ein dunkler wald

freitagmorgen um kurz vor 9 uhr verließ ich luxus-hausen, um die bahn richtung polnische grenze zu nehmen. dort, in einem kleinen dorf, wohnt nun das objekt. ein paar wenige kilometer weiter leben die objekt-eltern nahe der küste.

die fahrt begann sehr fröhlich und auch feucht, denn in meinem abteil ganz am ende des zuges saßen elke, gisela und drei weitere fidele damen so um die mitte 50 bis mitte 60. sie hatten sekt, cracker und käse aufgebahrt und freuten sich auf einen shopping-trip in berlin. wir verstanden uns sofort prächtig, sodass auch ich mitversorgt wurde und so um 10 uhr vormittags schon nicht mehr ganz nüchtern war.

von berlin ging es dann weiter mit diversen bummelbahnen, bis ich irgendwann gegen 16:00 uhr an einem eingleisigen mini-bahnhof die mini-bahn verließ. da war ich nun, und vom parkplatz winkte schon die objekt-mama, die es sich nicht hatte nehmen lassen, mich abzuholen.

ich wurde sehr herzlich gedrückt und hocherfreut begrüßt, und auch wenn es nur 100 meter waren, verlud die objekt-mama meinen koffer ins auto und brachte zu mich  zu meiner unterkunft. von dort aus ging es dann noch 5 autominuten weiter richtung pflegeheim.

mein herz schlug mir bis zum hals, als ich das zimmer des objekts betrat. es saß für meinen besuch schon bereit im rolli und starrte mich gebannt und etwas ratlos an. 

"du kannst die maske gern abnehmen", sagte der objekt-pfleger sanft zu mir.

sobald ich die maske abgestreift hatte, verwandelte sich das objektive gesicht. statt erstaunen und neugier stand da nun pure freude, und zu meiner noch größeren freude sagte es zur begrüßung gleich meinen namen.

dann lagen wir uns eine ewigkeit in den armen. zunächst lachte das objekt immer wieder auf, dann begann es mich ernst und zärtlich anzusehen. 

"ich freu mich so, dass ich da bin", sagte ich.
das objekt nuschelte etwas, was ich nicht verstand, aber es klang zustimmend.

die objekt-mama hatte mir aufgetragen, das objekt ruhig zu fordern und spiele mit ihm zu spielen. also holte ich irgendwann das mensch-ärgere-dich-nicht-brett aus dem schrank, baute den kleinen tisch auf und ließ das objekt dort platz nehmen.

dann schlug es mich dreimal, indem es sagenhafte sechser-reihen würfelte. glück im spiel, pech in der liebe, dachte ich und musste an die objekt-gespielin denken, die dankenswerterweise inzwischen von der bildfläche verschwunden war.

was sich in den monaten im osten verbessert hatte, war die objektive energie. drei stunden hielt es mühelos sitzend aus, während es früher nie länger als eine halbe stunde im rolli war. es sollte nun einen neuen supermodernen rollstuhl bekommen, der sich in den stand auffahren konnte, sodass das objekt auch mal wieder boden unter die füße bekam und schwerkraft erlebte. darum kloppte sich die objekt-mama derzeit mit der krankenkasse.

was sich verschlechtert hatte, waren die schluckproblematik und damit einhergehend die aussprache. seit der letzten lungenentzündung hatte es diesbezüglich schwere rückschritte gegeben. die schwierigkeit in diesem fall war, dass das diagnose-gerät nicht zur verfügung stand. so konnte man die schluckstörung derzeit nicht lokalisieren und deswegen nicht gegensteuern, erklärte mir später die objekt-mama.

also hing das objekt wieder an der magensonde und war deswegen auch sehr deprimiert. durch das fehlende kauen hatte sich die gesichtsmuskulatur wieder abgebaut, die aussprache war sehr verwaschen und meist nur ein nuscheln.

tagsdrauf war ich morgens erneut beim objekt, doch manche dinge ändern sich nie: als echter eulenmensch war das objekt vollkommen verschlafen und nickte mir nach einer halben stunde weg. 

"der hat die letzte nacht kein auge zugetan", erzählte mir die schwester. "der war noch sehr aufgeregt wegen deinem besuch."
"dann komme ich einfach später nochmal", sagte ich.
"ja, wir lassen ihn jetzt noch ein bisschen ausruhen. komm doch so am nachmittag wieder."

kurz drauf rief die objekt-mama an, die mich gerne zum essen einladen wollte. sie sammelte mich auf, dann fuhren wir erst in die wohnung, wo ich den objekt-papa kennen lernte. er war ein drahtiger kleiner mann mit schlohweißem haar, der sich für sein alter schnell und geschmeidig bewegte. die ähnlichkeit zum objekt war unübersehbar.

"willst du mit uns essen kommen", fragte ihn die objekt-mama, aber der objekt-papa meinte, er wolle lieber noch eine runde rad fahren.
"der ist so bekloppt", lachte die objekt-mama, "der fährt jeden tag 20 oder 30 kilometer rad und dann sitzt er da und jammert über seinen bauch!"
sie strich ihrem mann über die nicht vorhandene wampe und kicherte, während dem objekt-papa die frotzeleien seiner frau offenbar etwas peinlich waren. 

nach dem essen hatte die objekt-mama eine überraschung für mich:

"ich habe meinen sohn gefragt, was er findet, was ich dir unbedingt zeigen soll. und da sagte er zu mir: den wald."
ich guckte zuerst verdutzt, weil die eltern ja inzwischen in der kleinstadt wohnen. dann fiel der groschen:
"du meinst, wo er großgeworden ist!"
"genau."
"ja, ich erinnere mich! einmal ist das objekt mit dem zug zu euch gefahren, da haben wir telefoniert. und dann erzählte es mir, dass es jetzt eine stunde durch einen wald gehen muss, um nachhause zu kommen. wir haben noch telefoniert, bis die verbindung abgebrochen ist."

ich merkte, wie die objekt-mama meine anekdoten aufsog. sie fragte mich aus, wie ich ihren sohn kennen gelernt habe, ob wir mal zusammen gelebt haben und vieles mehr.

dann erzählte sie mir von der objekt-kindheit, wie schwierig das verhältnis zu seinem vater immer war, und wie das familienleben in der ddr so ablief.

"mein mann tut sich sehr schwer mit der situtation", berichtete sie dann. "manchmal schafft er es nicht, seinen sohn zu besuchen. er hat auch angst vor ihm, weil er jetzt manchmal so laut und ungehalten wird."
"männer haben da mehr probleme, denke ich, weil sie glauben, sie müssten da mit stärke durch. die weinen nicht, die reden nicht groß drüber", erwiderte ich. "mein freund ist auch so erzogen worden. empathie ist schwierig für ihn, da hat er einen regelrechten blinden fleck oftmals."
 
"du kannst deinen freund übrigens gerne mitbringen, wenn du mal wieder kommst", sagte die objekt-mama. "also falls er das möchte. weil das muss doch seltsam für ihn sein, dass du jetzt einfach zu meinem sohn gefahren bist."
"ich kann ihn fragen, aber ich glaube nicht, dass er das möchte", sagte ich vorsichtig. "er würde nicht mit ins pflegeheim kommen, weil er das objekt nur wenig kannte. ich glaube auch nicht, dass es sich an ihn erinnert. und dann sitzt er alleine im dorf rum, das ist nicht sein ding."
"macht ja nichts. aber du bist uns immer willkommen."
 
mir wurde ganz warm ums herz. so traute ich mich fragen, was ich mich bislang nicht hatte fragen trauen: was sich 2017 und 2018 nach dem unfall alles so ereignet hatte.
 
und die objekt-mama erzählte: wie viele wochen das objekt im koma gelegen hatte. wie man den schädel aufbohren hatte aufbohren müssen, um den steigenden hirndruck zu mindern. dass man ihn nicht bewegen durfte und so andere blessuren nicht versorgen konnte.
 
"und als sie endlich seinen arm reparieren konnten, kam er in eine spezialklinik dafür, und dort hat er dann gleich eine thrombose bekommen. also mussten sie ihm blutverdünner geben und die nötigen ops noch weiter aufschieben. durch die blutverdünner stieg dann auch der hirndruck wieder an."

als die vielen operationen dann durch waren, hatte die objekt-gespielin insistiert, das objekt nach hamburg verlegen zu lassen, weil sie sich um ihn kümmern wollte. der objekt-bruder hatte daraufhin den pflegeplatz in der nachbarstadt organisiert.

"du darfst der gespielin übrigens nicht sagen, dass du hier bist", warnte mich die objekt-mama dann noch. "sie ist immer noch sehr, sehr eifersüchtig auf dich, unbegründet oder nicht."
"tell me something new", sagte ich. "aber wir haben überhaupt keinen kontakt. und darum bin ich auch sehr froh, nach all dem hass, den sie mir immer wieder entgegengeschleudert hat. ich hab sie einmal von weitem gesehen, das ist alles."

nach einer kleinen fahrt von 15 minuten kamen wir im wald an.

"hier, schau mal, das war unser haus. die neuen besitzer haben das dach schön gemacht."
dann musste die objekt-mama erstmal ein paar hände schütteln, weil viele menschen aus den häusern kamen, um sie zu begrüßen.
"ein paar davon waren mal meine schüler", verriet mir die objekt-mama.
"ich hätte ja nie im leben damit gerechet, mal hier zu sein", sagte ich.
"das bist du, auf ausdrücklichen wunsch meines sohnes!"
 
so gingen wir in den wald. der einfach wunderschön und zauberhaft war. trampelpfade statt angelegter wege, dickes moos und dazwischen jede menge pilze. ich konnte mir gut vorstellen, wie das objekt hier langgegangen war, wahrscheinlich mit einem joint zwischen den lippen, mit wachen blicken für all das schöne um ihn herum.
 
nach dem waldspaziergang setzte mich die objekt-mama wieder am pflegeheim ab.

diesmal fand ich das objekt putzmunter vor. wir kuschelten eine weile, dann brachte ich die überraschung zum vorschein, die mir die objekt-mama mitgegeben hatte: ein familien-album mit vielen objekt-fotos - vom säuglingsalter bis in seine frühen zwanziger.

wir blätterten uns durch schulfotos, pionier-ausflüge, familienfeste und sport-events, an denen das objekt teilgenommen hatte. die erinnerung war nicht vollständig vorhanden, aber die meisten bilder konnte das objekt zuordnen. 
 
nach ein paar weiteren runden mensch-ärgere-dich-nicht und kartenspielen war das objekt dann so geschafft, dass es mir fast im rolli einschlief. ich rief den pfleger, um es zu bett bringen zu lassen. dann nahte auch schon der abschied.
 
"ich hab dich sehr, sehr gerne", sagte ich und küsste es. "ich komme wieder, ja?"
das objekte nickte todfertig.
"morgen kommt allerdings erstmal wieder deine mutti", erklärte ich. "ich muss ja zurück nach hamburg und arbeiten."
 
nach vielen umarmungen riss ich mich los und machte mich auf den rückweg zu meiner unterkunft. ich nahm den umweg durch den park, der das halbe dorf einfasste und wanderte so eine gute halbe stunde gegen zahllose emotionen an. 
 
am nächsten morgen kam die objekt-mama noch einmal, um mich zu verabschieden. 
"ich danke dir für alles", sagte ich und nahm sie fest in die arme. "ihr seid eine wunderbare familie, so offen und warmherzig, und es hat mich extrem gefreut, euch kennen zu lernen."
"und ich verstehe jetzt sehr gut, warum dich mein sohn so gerne hat", erwiderte sie. "wir freuen uns, wenn du mal wiederkommst, allein oder auch zu zweit."

ein letztes winken am zug.
ich dachte bei mir, bis bald.
und ich meinte es so, von ganzem herzen.
 


                                                                    im objekt-wald.

6 Kommentare:

  1. "und wanderte so eine gute halbe stunde gegen zahllose emotionen an. "

    total verstaendlich.

    Und echt so schoen fuer alle Beteiligten, wie es gelaufen ist :)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. hab fast so das gefühl, als hätte ich nochmal eltern bekommen. ;-)

      Löschen
  2. Manchmal scheint es, dass das Leben die besten Lösungen von selbst anbietet. Das Problem war ja, dass Sie das Objekt lieben, aber nicht mit ihm leben können. Jetzt haben der Unfall und seine Folgen dafür gesorgt, dass die Konkurrentin (der Name "Gespielin" ist ganz unpassend - sie hatte ernsthafte Ambitionen und konnte im Gegensatz zu Ihnen mit dem Objekt leben, jedenfalls solange es gesund war) verschwunden ist. Und Sie können dem Objekt wieder nahe kommen, aber dessen körperlicher Zustand schützt Sie vor zu viel Nähe, die wieder den alten Strudel auslösen würde. Jetzt müssen Sie nur noch die Balance halten und aufpassen, dass die Objekt-Mama Sie nicht zu eng an das Objekt bindet - dann würde das alte Chaos wieder losgehen. Der Objekt-Papa hat das richtige Signal gegeben: Abstand halten! Und der Luxus-Mann muss selbstverständlich fernhalten. Der geht die Objekt-Familie gar nicht an! Der gehört nur Ihnen. Und den - und Ihr echtes Leben - brauchen Sie als Ausgleich, für die Bodenhaftung.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. ich habe mich auch oft gefragt, welchen positiven sinn ich diesem unfall abgewinnen kann. und auch wenn ich die denke total zynisch finde: der unfall hat mich aus dieser verbindung ein stück weit "befreit". auch wenn mir rational immer bewusst war, in diesem leben geht das nicht zusammen mit uns, die faszination bestand ja immer - und hat ambivalenzen ausgelöst.
      da hat die gespielin (den namen habe ich ihr 2011 gegeben, weil sie eben eine der vielen frauen war, mit denen sich das objekt umgab, und habe ihn beibehalten, um die leser hier nicht zu verwirren) sicherlich etwas erreicht, was ich nie geschafft habe. ich habe auch gemerkt, dass sie dem objekt gut getan hat - es hat den absprung zumindest vom alkohol geschafft und seine lebensituation (pleite, wohnungslos, mehrere teilzeitjobs) insgesamt konsolidiert. das hat ihm sicherheit gegeben, und das merkte man ihm an.
      ich habe die objekt-mama sehr gern, aber natürlich möchte ich mich nicht verstricken lassen. sie hatte es mir hoch angerechnet, dass ich geld und zeit investiert habe, um ihren sohn zu besuchen, und das obwohl ich einen freund habe. der kontakt ist aktuell so, dass ich mich absolut nicht verpflichtet fühle. manchmal herrscht auch ein paar wochen funkstille, wenn es nichts besonderes mitzuteilen gibt.

      Löschen

danke für deinen kommentar. ist er hilfreich, fair und sachlich, wird er nach freischaltung veröffentlicht. kontextfreie, rassistische und sonstige arschloch-scheiße wird sofort gelöscht.