immer mehr menschen sind atheisten, weil sie keiner glaubensgemeinschaft angehören. aber das heißt lediglich, dass sie nicht an einen durch die kirchen proklamierten gott glauben.
fast alle menschen, die ich kenne, sind streng gläubig. zum beispiel meine erste große liebe, der jeden gott theatralisch ablehnte, überraschte mich mit der aussage, dass er glaube, seine seele würde einst in seiner tochter weiterleben. kurzum, er postulierte die existenz von etwas bis heute fraglichem - einer seele - und zugleich deren ewiges leben. ein schöner gedanke, aber nichts als reiner glaube.
auch der luxus-mann lehnt religionen vehement ab und geht sogar soweit, dass er seiner tochter die beziehung mit einem gläubigen mann verbieten würde. interessanterweise lebt er in einer welt, die extrem von magisch-numinosen regeln durchzogen ist. zum beispiel mag er nicht auf sitzplätzen mit ungeraden zahlen sitzen, hat sorge, wenn der 13. auf einen freitag fällt und praktiziert ein sammelsurium von kleinen, unauffälligen magie-ritualen, um die börse zu beeinflussen. ein psychologe würde es zwanghaft nennen, ich nenne es gläubig.
grundsätzlich ist unser aller alltag geprägt von einer hohen anzahl an erlösungspraktiken. ein wichtiges beispiel dafür sind marken und marketing. durch marketing schafft man eine emotionale bindung an eine marke, die faktisch nicht schlechter und besser ist als andere religionen, äh marken. aber man ist sogar bereit, einen extrem hohen preis zu bezahlen, um in den kreis der erlauchten und erlösten aufgenommen zu werden. das beginnt bei der gesichtscreme und hört beim porsche auf. oh heilige gesichtscreme, erlöse mich von akne und falten! oh ehrwürdiger porsche, erhebe mich in den reihen der sichtbaren besserverdiener!
ein weiteres gutes beispiel sind sport und ernährungsweisen. wir optimieren unsere körper, um fuckable und gesund zu bleiben. in hinblick auf unsere sterblichkeit könnte uns das wurscht sein. aber die meisten von uns streben nach sex / fortpflanzung und danach, möglichst lange zu leben - um leiden und den tod so weit es geht zu vermeiden und sich so zu lebzeiten ein stückchen unsterblichkeit zu verleihen.
einige gehen sogar soweit, dass sie mit einem guten gewissen sterben wollen - zum beispiel veganer, die ihre ernährung stark an umweltschutz-ziele knüpfen. warum die umwelt schützen, wenn man in ein paar jahren sowieso unwiederaufstehbar weg vom fenster ist? und wer soll einen strafen für umweltsünden, wenn es keinen großen rächer im jenseits gibt?
unsere kinder und andere nachfahren gehen ebenso wie wir über die wuppe - früher oder später. und der planet lebt auch ohne menschen prima weiter, bis er in einigen milliaren jahren von der expandierenden sonne verschluckt wird. im grunde ist es komplett irrsinnig, sich überhaupt zu vermehren und so viel kraft in die partnersuche oder gar umweltschutz zu stecken.
also wozu der ganze aufwand? auch verantwortungsgefühl gegenüber kindern, tieren oder pflanzen entsteht immer aus dem glauben an eine ordnung, ein regelwerk, einen großen, meist nicht ganz genau fassbaren sinn.
glaube geht aber auch viel einfacher. warum diese tage einer fußball-mannschaft zujubeln und sich dabei mit landesflaggen behängen? eigentlich lächerlich, wäre da nicht der glaube, dass diese mannschaft / glaubensgemeinschaft etwas herausragendes schafft, was in die annalen eingeht und sie so ein wenig unsterblich macht. was uns dann wiederum über unsere eigene sterblichkeit hinwegtröstet. durch das behängen mit identifikationsgegenständen oder einen st.-pauli-ausweis schaffen wir uns einen bezug dazu, werden mitglieder und grenzen uns zugleich ab gegen andersgläubige. und wie bei einem echten glaubenskrieg kommt es hin und wieder zu gewaltausbrüchen der ultras, die häufig außer ihrer zugehörigkeit zum lieblingsverein nur wenige alternative erlösungsglaubenssätze haben.
auch nazis oder schwurbler sind streng gläubig. sie erlangen ihren glauben zunächst durch abwertung anderer glaubenssätze und stützen sich in ihrer religion auf strenge exklusivität, die auch körperliche merkmale wie weiße haut mit einbeziehen kann. wie viele religionen benötigen sie keine fakten, um sich erlöst zu fühlen. es genügt der irrationale glaube an etwas übergeordnetes und das zugehörigkeitsgefühl zu einer gruppe mit einem gewissen wortführer / prediger. daraus bildet sich das ebenso irrationale gefühl von überlegenheit. wie auch bei den hooligans kann es vor allem bei fehlenden alternativen glaubenssätzen zu gewalt gegen andersgläubige kommen. all dies erklärt zugleich, wie sich diese menschen bekehren ließen - nämlich nicht durch gegenteilige fakten, sondern durch ein attraktiveres angebot einer alternativen glaubensgemeinschaft.
warum glauben wir überhaupt? diese frage lässt sich recht einfach (und doch wieder nicht) beantworten. wir sind die einzige spezies, die weiß, dass sie sterblich ist. und wir haben bewusstsein für zeit. wir können unsere zukunft auf eine reihe von jahren und jahrzehnten planen und teils auch selbst gestalten.
der glaube und eine glaubensgemeinschaft helfen uns dabei, unsere zukunft auf irgendeine weise in die hand zu nehmen und ihr einen mehr oder minder fraglichen sinn zu verleihen. dies löst das gefühl von sicherheit und zufriedenheit aus. deshalb fühlen sich viele menschen alleine auch unwohl.
die familie ist dabei die kleinste einheit einer glaubensgemeinschaft. sie wird durch hormone gesteuert, die unter anderem bewirken, dass diese irrationale zuneigung zu völlig fremden wesen, die aus den bäuchen unserer frauen kriechen, von anfang an besteht. wozu etwas großfüttern, das sowieso zum untergang verdammt ist? man kann also sogar soweit gehen zu behaupten, dass glaube bis zu einem gewissen grad in unseren genen steckt.
die spannendste frage überhaupt lautet für mich: wird der glaube die evolution überleben? wird er sich vielleicht irgendwann zurückbilden? oder gibt es evolution vielleicht sogar nur durch glaube?
lange rede, kurzer sinn: vielleicht sollte man versuchen, den menschen im derzeitigen evolutionsstadium weniger als vernünftiges wesen zu verstehen. sondern eher als gläubiges wesen, dass - vernunftsgetarnt - doch zu einem großen teil von seiner unbewussten angst vor siechtum und tod gesteuert ist - und diesen vermeintlichen schrecken auf vielfältige, irrationale weisen zu entkommen versucht.
vergeblich zwar.
aber da niemand weiß, was nach dem tod kommt - die hölle, das paradies, die rückkehr zu den ahnen oder ein endloser flug durch die leere - müssen wir weiterhin glauben, um zu leben.
Sehr interessante Gedanken, die ich in weiten Teilen ähnlich denke.
AntwortenLöschenGestolpert bin ich über den Eingangssatz: "immer mehr menschen sind atheisten, weil sie keiner glaubensgemeinschaft angehören."
Ist es nicht vielmehr so, dass die Menschen keiner Glaubensgemeinschaft angehören, weil sie Atheist:innen sind? Also kausal genau umgekehrt wie im Text geschrieben.
Atheismus ist weniger ein Nichts-Glaube als ein Kein-Gott-Glaube, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Und da wären wir bei den Gedanken in obigem Blogartikel.
Gründe, warum wir uns, obwohl wir doch nichts glauben, ’glaubenswerte Dinge’ zurechtbiegen, sind für mich: Wenn ich schon leben muss, dann möglichst gut und so, dass ich den Nachfolgenden eine lebenswerte Welt hinterlasse. Nicht weil ich im Jenseits ein Gericht erwarte, sondern weil da nach mir Menschen kommen, denen ich keine Müllhalde, sondern möglichst gute Startbedingungen übergeben will.
Dies ein paar Gedanken, die mir beim Lesen gekommen sind.
"Ist es nicht vielmehr so, dass die Menschen keiner Glaubensgemeinschaft angehören, weil sie Atheist:innen sind? Also kausal genau umgekehrt wie im Text geschrieben."
Löschenbuddhismus bspw. hat keinen gott und ist dennoch eine (vielfältige) glaubensgemeinschaft. ich meinte tatsächlich die kirchlichen und ähnlichen organisationen. also das klassische, was menschen mit "gläubig" verbinden. viele glauben an einen gott, bezeichnen sich aber als nicht gläubig, weil sie keine kirchensteuer bezahlen oder nicht in die moschee rennen.
warum man sich trotzdem glaubenswertes zurechtlegen? nunja. wenn man an nachkommen denkt, "glaubt" man ja daran, dass sich das irgendwie lohnt. tut es ja aber faktisch nicht. nachkommen sind - streng genommen - schlimme umweltverschmutzung. ;-) also wäre es sinnvoller, die nachkommen entweder nicht zu bekommen oder rasch sterben zu lassen, um genau das mit der müllhalde zu vermeiden. das ist natürlich sehr zynisch gedacht. wäre aber ethisch betrachtet unter umweltaspekten deutlich besser. ;-)
schwieriges thema, aber ich liebe es halt so, mich gedanklich da reinzufriemeln. ;-) schön, wenn es menschen gibt, die auch so ticken!
Da darf ich zitieren:
AntwortenLöschenWer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht nichts sondern Unsinn