Sonntag, 22. Juni 2025

world of wahnsinn

heimatbesuch. während meines aufenthalts findet das alljährliche stadtteilfest statt - mit dem üblichen brimborium wie trachten-aufmärschen und blaskapellen-musik. etwas, das meine generation in den 90ern noch mied wie die pest. spießig fanden wir das, das allerletzte, nur für alte leute und allerhöchstens noch kleine kinder geeignet. klar gingen auch wir manchmal nach der schule zum festplatz, um am autoscooter abhängen oder ein anderes fahrgeschäft zu besuchen - aber eher, um den gegenpol zu bilden, ein spießer-schreck zu sein.

heute ist das stadtteilfest magnet unzähliger junger menschen zwischen schätzungsweise 15 und 25. mit dirndl und lederbüx uniformiert ziehen sie in riesigen scharen zum festplatz, die mädchen mit zöpfen, die jungen mit ordentlichem seitenscheitel. der rest kommt in turnvereinsbekleidung, die sportliche art der uniform. 

nachmittags der festumzug und das aufstellen des kirchweihbaums. hier kommen lokalen politiker, die uns höchstens noch faules obst und alte eier wert waren. heute marschiert die unifomierte jugend und jubelt bratwustkönig söder zu. abends machen die angetrunkenen jungs den ochsenfrosch, brüllen herum, befehligen die mädchen wie ihren besitz. 

bedenklich finde ich das alles, sehr 1932-mäßig, aufgeladen mit einer unverholenen brutalität und erstarkendem machismus. ich fürchte mich vor dieser uniformierten, scheintraditionsverhafteten jugend, die in 20 oder 30 jahren unser land regieren wird. 

*** 

daheim dreht sich wie seit vier jahren alles um meinen vater. mehrfach müssen wir in nur einer woche die sanitäter rufen, weil er stürzt oder nicht mehr vom klo hochkommt. es ist kurz vor endstation. der sanitäter, der letzte nacht in unserem badezimmer steht, merkt an, wie gefährlich die wohnsituation für meinen vater sei, vor allem die treppen. ja, was soll man machen, wir können dieses haus ja nicht komplett umbauen, und verlassen will mein vater es nicht.

mein vater ist zunehmend depressiv, leugnet dies aber vehement, wenn darauf angesprochen. er verweigert fast alles. zum spazierengehen ihn kann ich noch gerade zwingen - und wir trippeln mit dem rollator eine strecke von rund 250 metern in 40 minuten. wenn ich nicht laut seine schritte zähle oder "links, rechts, links, rechts, große schritte!" rufe, bleibt mein vater stehen und schaut zerstreut in die luft oder einem auto hinterher. dabei ermüdet er natürlich. als ich das anspreche, sagt er mir, er könne sich selbst nicht konzentrieren. er wisse nicht, was er wolle und fühle sich verwirrt. auch das sind alles anzeichen der altersdepression, wie ich weiß. aber ohne jedes krankheitsbewusstsein und mit totalverweigerung kann ich nicht helfen.

als ich noch mal versuche, ihn zu einer reha zu bewegen - wenigstens versuchsweise, er könne ja jederzeit abbrechen, wird er richtig wütend. er gehe nicht "zu fremden leuten, die ihm alles mögliche antun wollten". ich erwidere, dass, wenn wir ihn in ein pflegeheim bringen müssten, sich dann den rest seines lebens fremde leute um ihn kümmerten. und dass eine reha doch nur eine vorübergehende maßnahme wäre, wieder einen gewissen stand zu erreichen, auf dem er sich vielleicht noch ein jahr oder so halten könne. das alles geht ungehört links rein und rechts wieder raus bei ihm.

da er noch auto fährt, kommt es neuerdings auch zu unfällen. nur blechschäden bislang. den führerschein will er aber nicht abgeben, meint sogar, dass er, wenn sie ihn den lappen wegnehmen würden, trotzdem noch fahren würde. und wenn du ein kind überfährst? frage ich. passiert ihm schon nicht, meint er. 

auch meine mutter hat inzwischen komplett resigniert. zwar schwingt sie weiterhin ihr zepter, aber konstruktive ansätze wagt sie keine mehr. ich habe den eindruck, dass sie nur noch auf den tag wartet, wenn mein vater endlich im heim ist. ich kann es ihr nicht verdenken. trotzdem zerreißt mir die lieblosigkeit das herz - und es ärgert mich maßlos, dass auch sie jede hilfe verweigert. eine putzfrau kommt ihr nicht ins haus, auch kein pfleger. in diesem fall kann ich also ebenso wenig unterstützen - obwohl ich maßgeblich dazu beigetragen habe, dass die neue pflegestufe erreicht und der schwerbehindertenausweis beantragt wurde. alles für den allerwertesten.

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trotz allem fühle ich mich hier vollkommen zuhause. der gedanke, morgen wieder zurück nach kackstadt fahren zu müssen, ist eine fast unerträgliche qual für mich. es erwartet mich eine knallvolle woche mit drei bewerbungsgesprächen - allesamt für stellen, die höchstens so semi sind, mäßig interessant, schlecht bezahlt und mit - auf den ersten blick - nicht übermäßig freundlichen kollegen. es gruselt mich.

ach, wie ich dieses haus, diesen garten liebe! den frieden. keine psychotischen nachbarn, keine dauerlärmenden studenten, kein beständiger abgasnebel und keine nervenden ps-proleten im porsche vorm fenster. nur grün, ruhe und gute luft. für außenstehende sicherlich nicht nachvollziehbar - unser reihenhäuschen ist kein luxus, nichts besonderes und innen teils ziemlich heruntergekommen. aber es verkörpert das paradies für mich: es ist alles, was ich seit so vielen jahren entbehre.

und natürlich meine lieben freunde. menschen, auf die ich jederzeit zurückkommen kann. die mir echtes interesse entgegenbringen. bei denen ich mich nicht fühle wie ein lückenbüßer oder lästiger bittsteller. 

"es sind ihre wurzeln", sagt meine psychiaterin gerne, "und je näher das ende rückt, desto mehr spüren sie, wo sie stehen und wonach sie sich sehnen." sie selbst hat lange in der fremde gewohnt und sich nach 27 jahren entschieden, nach hamburg zurückzukehren und das haus ihrer mutter zu bewohnen. sie weiß, wovon sie spricht und kennt meinen kummer.

zum ersten mal zweifle ich, ob mich die beziehung zum luxus-mann noch in kackstadt halten kann. es gibt für uns keinen beziehungstechnischen trennungsgrund. aber das ausharren an einem ort, der mir inzwischen derart zuwider ist, ist ein großer kompromiss. einer, der mir vielleicht jetzt gerade über den kopf wächst.

ich fahre in diesen tagen stundenlang mit dem rad durch die satten, einladenden landschaften frankens, strecken ohne ampeln, endlose blechlawinen und erhöhte unfallgefahr. den alten kanal entlang, über weizenfelder, neben grasenden schafen her und durch den alten forst. ein beständiges entdecken und wieder-entdecken. ich fahre bis an den äußersten rand der stadt, wo meine großeltern einst lebten, mache ein foto von ihrem früheren haus, das ich später meinem vater zeige. er nimmt sogar ein wenig anteil, wirkt bewegt, ein zaghaftes lächeln. wunderschön ist dieser kurze moment. ich bin dankbar dafür, fast glücklich - inmitten all des wahnsinns und der hoffnungslosigkeit, die mich umgibt, politisch, wohnorttechnisch, beruflich und familiär.

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