Samstag, 9. Juli 2022

das biest

in der ersten klasse hatte ich blockflötenunterricht. weil mädchen das so machen. (weil mädchen lernen müssen, wie man ordentlich bläst, würde der luxus-mann jetzt sagen.)

ungefähr die hälfte der mädels in meiner klasse besuchte also einmal pro woche den flötenunterricht bei herrn swoboda. herr swoboda war ein kleiner, kugelrunder vollbärtiger mann von großer güte und herzlichkeit. vermutlich hätten wir bei einem strengen lehrer mehr gelernt, aber bei herrn swoboda war alles ein großer spaß.

zu diesem spaß gehörte auch, dass wir mädchen ihn foppten. er reagierte stets humorvoll, wuschelte derjenigen durch die haare und nannte sie scherzhaft ein "biest". immer lachend, freundlich, versöhnlich. vor herrn swoboda hatte ich nie angst, auch wenn ich mal nicht geübt hatte.

dann wurde es november. in meiner christlichen erziehung spielte der st.-martin-tag eine große rolle. buzzamärtel nannten wir den tag in franken. traditionell kam an diesem tag ein verkleideter student zu besuch und brachte geschenke, was ich toll fand. 

ebenso traditionell fand am nachmittag dieses tages ein st.-martins-umzug statt. meine mutter, hausfrau, hatte die ehrenvolle aufgabe, mit mir dahin zu gehen, obwohl sie es blöd fand. ihre schlechte laune war stets vorprogrammiert, doch ich freute mich immer so sehr darauf, dass es mir egal war.

in diesem jahr war es sehr kalt im november und meine mutter drängte nach kurzer zeit, dass wir wieder nachhause gehen. ich wollte aber gerne noch einmal kurz etwas weiter nach vorne in der menschenmenge, weil ich den st. martin einmal von nahem sehen wollte. 

meine mutter, ohnehin gereizt, machte kehrt und ging weg. ich bekam panik, dass ich sie in der menge verlieren würde, und rannte ihr nach. als ich sie erreichte, war ich sehr erleichtert und sagte: "du bist ein biest!" durchaus nicht unfreundlich, sondern so wie ich es von herrn swoboda kannte.

meine mutter war aber nun meine mutter und reagierte wie sie normalerweise auf unartigkeiten reagierte: sie schnappte ein. wir gingen nachhause, meine mutter ohne einen blick oder ein wort an mich. langsam dämmerte mir, dass meine mutter das mit dem biest nicht richtig verstanden hatte. es war doch eigentlich nicht schlimm gemeint, immerhin sagte herr swoboda das auch dauernd und meinte es lustig.

drei oder vier tage lang ignorierte mich meine mutter. irgendwann enschuldigte ich mich unter tränen und beteuerte, es nicht böse gemeint zu haben. ich hätte nur so gerne den st. martin von näher gesehen. meine mutter schaute mich kalt an und nahm die entschuldigung herablassend und halbherzig an. doch es dauerte noch tage, bis sie wieder normal mit mir umging.

das ist die art und weise, wie ich als kind streit kennen lernte: der andere nimmt meine äußerung persönlich und setzt mich der verhältnismäßig drakonischen strafe in form von langanhaltendem liebesentzug aus. 

entsprechend habe ich noch heute große probleme, mich entspannt zu streiten. immer, wenn es zum konflikt mit dem luxus-mann kommt, bereite ich mich innerlich auf eine trennung vor, auch wenn ich im kopf weiß, dass er immer mit mir redet und wir den streit zusammen aus unserem kosmos schaffen. klar geht es manchmal  hoch her dabei, aber im grunde genommen habe ich mit dem luxus-mann einen partner gefunden, der eine sehr gute streitkultur mitbringt.

ein streit bedeutet für - ich nenne es mal so, obwohl ich den begriff hasse - das innere kind in mir eine katastrophe. ein streit ist qual, die versöhnung schwierig, und es bleibt ein ewiger nachgeschmack. ich habe als kind auf diese weise gelernt, dass ich nicht böse werden darf. viel alte wut schlummert noch in mir. gerne würde ich meiner mutter manchmal noch sagen, was für eine belastung sie oftmals für mich war. aber ich weiß, wie sie reagieren würde: es erst abstreiten und dann einschnappen, weil es frech von mir ist, sowas böses und ungerechtes zu sagen.

also arbeite ich lieber weiter mit mir und meinen verletzungen. ich bin froh, dass mir solche anekdoten immer noch einfallen, weil sie so wahnsinnig viel erklären, wie ich bin. wie ich damals fühlte und wie ich mich heute oftmals noch fühle: schuldig, traurig und mit einer riesengroßen sehnsucht nach liebe, versöhnung und verständnis.

ich weiß auch, dass meine mutter ihre sehnsüchte in sich trägt und mit ihrem eigenen zukurzgekommensein hadert. aber ich habe es abgelegt, mich deswegen so schlecht und schuldig zu fühlen wie ich es als kind tat. ich habe verstanden, dass es an ihr gewesen wäre, an sich zu arbeiten. zugleich kann ich mitgefühl empfinden, weil ich weiß, wie es ist, alleine, unverstanden und oftmals ungeliebt zu sein.

aber ich weiß auch, dass es falsch ist, diesen gestörten zustand ungefiltert und unreflektiert an einem kleinen kind auszuleben. es ist - streng genommen - emotionale misshandlung. vielleicht habe ich auch deshalb keine eigenen kinder - weil ich so viele defizite habe, dass ich nicht sicher bin, ob meine liebe für ein kind ausreichend wäre.

dass ich mir den umgang mit tieren zutraue, ist vielleicht ein erster schritt. einer, der mich sehr glücklich macht, denn tiere lieben mich in der regel. zumindest etwas, was ich offenbar richtig mache.

10 Kommentare:

  1. Exakt das bringt meine Mutter auch gern, ist das so ein Generationen-Ding?
    Ich weiss, dass sie es irgendwie von ihrer Mutter uebernommen hat, denn ALLE ihre Schwestern machen das auch.
    Und komplett unreflektiert, dass sie evtl selbst ein Problem haben koennten, an dem man arbeiten koennte.

    Naja und folgerichtig habe ich das mit dem Streiten auch nie gelernt und immer sofort ein mega schlechtes Gefuehl, wenn die Harmonie mal wankt.
    Da ist ein Partner, der das kann, Gold wert. Glaube ich. Hatte noch keinen davon :-D

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    1. kein wunder, dass wir alle so nen knacks haben! ;-)
      meine mutter hatte nach ihrer - fast tödlichen - eileiterschwangerschaft eine ptbs. in den 80ern hat man sowas ja nicht diagnostiziert, also ist sie da mehr oder minder alleine durch. mit panikattacken usw. ich weiß nicht, ob das dazu geführt hat, dass sie so unbewusst dahinlebte und oft nicht merkte, welche negative wirkung sie auf mich hatte. anderseits haben auch andere mütter sowas und sind nicht so drauf.

      möglicherweise hat das tatsächlich auch was mit der generation zu tun. die kinder der kriegskinder, gabs da nicht mal so ein buch dazu? wollte ich mir schon immer mal kaufen. ein früherer freund von mir behauptete, ich würde darin sehr viele erklärungen für das verhalten meiner eltern gegenüber mir finden und vor allem feststellen, dass ich unschuldig daran bin. das schuldgefühl hat sich bei mir halt leider so sehr festgefressen. das bedeutet nicht, dass ich streit total aus dem weg gehe oder harmoniesüchtig bin, aber es fällt mir schwer, angemessen zu reagieren. es kann dann auch too much sein und ich schieße total übers ziel hinaus. und das tut mir dann wieder mega leid -> schuld-spirale and once again with feeling. ;-)

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    2. das da meinte ich: https://www.herder.de/leben-shop/wir-kinder-der-kriegskinder-kartonierte-ausgabe/c-28/p-6119/?msclkid=1febcda02ef11e798b3faf6dea3ccb53&utm_source=bing&utm_medium=cpc&utm_campaign=DE%20%7C%20Shopping%20%7C%20Religion%20%7C%20-Autoren%20%26%20Titel&utm_term=4585925563861640&utm_content=Ad%20group%20%231

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  2. hoert sich interessant an! wuerde im uebrigen auch viel von der typischen Boomer-Mentalitaet gewisser Leute erklaeren... (DAS HAT UNS DAMALS AUCH NICHT GESCHADET!!!)

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  3. Danke für den Link! Vielleicht verstehe ich (Jahrgang 63) dann mal die seltsamen Verhaltensweisen meiner Eltern. Dann kann ich eventuell auch nachvollziehen, wieso man mich - bis auf den Pflichtteil - offensichtlich grundlos enterbt hat.

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  4. Uff. Ich finde, das eigene Kind zu ignorieren, weil man einen grudge hat oder was auch immer, so extrem arschig, das macht mich echt wütend. Und dann auch noch mehrere Tage lang?! Was soll man denn damit anfangen als Kind, man ist doch völlig abhängig. Nee, echt ey.

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  5. Diese Bücher von Sabine Bose haben mir sehr viel erklärt. Ich habe plötzlich verstanden, wie Eltern und auch die andere Verwandtschaft ihre Traumata leben, und welche Auswirkungen das auf die folgenden Generationen hat. Ich habe tatsächlich begonnen zu verzeihen und ich hab mein Frieden gemacht.

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  6. Diese Bücher von Sabine Bose haben mir sehr geholfen, all das zu verstehen, was ich Härte erfahren habe. Solches erlebt hat, hat sein Herz so verschlossen, dass da wenig Platz für ein Kind ist.

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