therapeutisches schreiben, klappe die 2.
als ich in die fünfte klasse ans gymnasium wechselte, war es zunächst für mich, als könne ich neu anfangen. die meisten kinder aus meiner grundschulklasse gingen auf die haupt- oder realschule. ich beschloss daher, dass ich ab sofort anders sein würde: cool und lustig und vor allem keine streberhafte einser-schülerin mehr.
ich hatte aber auch horror vorm gymnasium, das eine riesige schule mit integrierter realschule war. ein enormer kasten aus beton mit einem ziemlich großen einzugsgebiet an schülern. einige aus meiner alten klasse gingen auf das kleine, sehr renommierte gymnasium im nachbarstadtteil. dort hätte ich mich vermutlich wohler gefühlt.
doch dann erzählte mir a. - eine 17-jährige aus meinem turnverein, die ich zu meiner großen wahl-schwester auserkoren hatte - dass sie auch auf meinem gymnasium sei. "wenn was ist, kommst du in der pause einfach zu mir", sagte sie aufmunternd. das fand ich toll und half mir sehr bei meinem start. gleichzeitig lockte es mich wieder in die falle. denn was machte ich natürlich? ich stand in den pause mit a. und den anderen zwölftklässern herum, anstatt mich mit den leuten aus meiner klasse zu befassen.
zu a.s clique gehörte einmal ihr freund, der riesengroß und spindeldürr war. für ihn war ich wie eine kleine schwester. außerdem war da eine hübsche blonde, die genauso hieß wie ich. sie konnte irrsinnig gut zeichnen. als ich wieder einmal neben ihr saß und vor bewunderung sabbernd beobachtete, wie sie den stift übers papier fliegen ließ, erzählte sie mir, ihre kleine schwester i. sei eigentlich noch viel talentierter. sie habe das große michelangelo-gemälde gemalt, das die schulaula zierte. ich staunte noch viel mehr und brannte natürlich darauf, i. kennenzulernen.
i. war ein jahr jünger als ihre schwester und ging in die elfte klasse. in meinen augen war sie eine verheißung. sie trug ihr hellblondes haar knallrot, was ihre leuchend blauen augen und ihre helle haut noch mehr strahlen ließ. sie ging fast immer barfuß, wenn es das wetter auch nur ansatzweise erlaubte. das beste war ihre kleidung: sie trug lange, schwingende röcke aus verschiedenen stoffmustern. sie nähte sie alle selbst. sie war in meinen augen das schönste mädchen der schule und das auffälligste noch dazu.
anfangs war i. wenig begeistert, dass ich ihr fortan hinterherlief. ich war zehn, von mutti spießig eingekleidet und auf den ersten blick einfach nur ein langweiliges kind. aber wir kamen in den flow - und da ihr zuhause auf meinem weg lag, gingen wir oft zusammen, wenn wir mittags zur gleichen zeit aus hatten. ich lernte wahnsinnig viel von i.: wie man haare mit henna färbt. wie man coole bilder malt. wo man gute stoffe für selbstgenähte kleidung bekommt. sie interessierte sich auch für philosophie, woraufhin ich mir zu weihnachten "sophies welt" von jostein gaarder wünschte.
das alles fand ich sehr viel spannender als das, was mir beispielsweise meine banknachbarin so erzählte. sie war in einen der sitzenbleiber in unserer klasse verknallt, den ich oberpeinlich und superdämlich fand, und sie hörte michael jackson, während ich klassische musik bevorzugte. trotzdem nahm ich sie öfter mit zu mir, wenn sie eine schlechte note geschrieben hatte. schlechte noten bedeuteten für sie zuhause prügel, und das tat mir leid.
die anderen mädchen in meiner klasse blieben eher entfernte bekannte für mich. ich beschäftigte mich wenig mit ihnen. ab und an bekam ich mit, dass sie über mich lästerten, aber das fand ich nicht so schlimm. meist ließen sie mich in ruhe. die jungs waren da weniger zimperlich. sie zogen alle register: sie verunglimpften meinen namen, versteckten meine sachen oder warfen mein fahrrad in die böschung, wenn ich morgens vergaß, es an den ständer zu schließen.
ich ertrug es relativ stoisch, da ich einfach keinen wunsch hegte, mich mit ihnen in irgendeiner form abzugeben. den klassenclown hatte ich ebenfalls nur kurze zeit gespielt. diese wenig interessanten menschen waren es mir nicht wert, meine guten noten zu gefährden oder mir sonstigen ärger einzuhandeln.
was mich wesentlich mehr belastete, spielte sich in der siebten und achten klasse ab. ich war damals 12 bzw. 13 und keine schönheit. ich trug immer noch eine feste zahnspange, inzwischen auch noch eine brille und hatte schlimme akne. darüber hinaus trug ich bevorzugt alte kleidung aus den jugendjahren meiner eltern und großeltern - in wilden und absolut nicht stilsicheren kombinationen.
auf meine sichtbare absonderlichkeit sprang eine gruppe jungs aus der elften klasse an. sie waren in der regel zu dritt: ein anführertyp mit vorlauter klappe, ein zweiter typ, der den anführer unterstützte, und ein schüchterner, der vermutlich ebenfalls eher ein opfer war. der anführertyp kam eines tages kurz nach der pause in unser klassenzimmer zu mir und bat mich recht höflich, doch bitte mal mitzukommen. draußen vor der tür standen die anderen beiden. der anführer behauptete, der schüchterne typ sei in mich verliebt. der schüchterne wollte weglaufen, aber der unterstützer-typ hielt ihn fest - und der anführer-typ mich. wir sollten uns küssen. wir wehrten uns natürlich. irgendwann kam ein lehrer und die typen musste abzischen.
ich war komplett verstört, da ich mit jungs noch nichts am hut hatte. der schüchterne war sicherlich überhaupt nicht in mich verliebt war, allenfalls ein mitläufer und wollte vermutlich auch nur seine ruhe. aber die beiden anderen waren fies. ich ahnte, dass dies nicht unsere letzte begegnung war - und sollte recht bekommen.
fortan wurde ich regelmäßig in der pause oder nach der schule abgefangen, festgehalten, verspottet und manchmal auch bedroht. ähnlich wie in der grundschulzeit suchte ich alternative wege, die schule zu verlassen, versteckte mein fahrrad, damit die jungs nicht sahen, wo ich parkte, oder versuchte, an der seite eines lehrers zu entkommen. aber die jungs wussten, wo ich wohnte und welche straßen ich nutzen würde, um nachhause zu kommen. sie passten mich ab und versperrten mir den weg.
das ging locker ein jahr so. die jungs wurden des spiels nie müde. irgendwann, als sie mir wieder einmal mit ihren rädern den weg versperrten, gab ich gas. ich krachte heftig ins vorderrad des teuren rennrads des anführers, konnte mich dabei aber im sattel halten und fuhr stolz wie eine königin davon, während der anführer bedröppelt guckte und sein vorderrad begutachtete. ich hoffe, dass er nun den fettesten achter der welt darin hatte.
am nächsten tag nach schulschluss war mein fahrrad verschwunden. ich wusste nicht mehr, ob ich es angeschlossen hatte oder nicht. ich hatte zuerst die jungs aus meiner klasse im verdacht, aber da diese dumm und unkreativ waren, fand ich mein rad sonst berechenbarerweise in der böschung neben den fahrradständern wieder. diesmal war dem nicht so. davon abgesehen passte die aktion viel zu gut zum vorfall am vortag.
zuhause bekam ich wegen des verschwundenen fahrrads ärger. für meine eltern war sonnenklar, dass ich die sache verschuldet hatte, weil ich mein rad nicht ordentlich abgeschlossen hatte. mich überkam nackte verzweiflung. ich hasste die ganze schule und meine eltern ebenfalls. ich schrieb schlechtere noten als sonst, da ich nachts wachlag und grübelte, wie ich aus der situation herauskommen könnte. ohne fahrrad war ich jetzt dummerweise auch noch langsamer und die jungs hatten ein noch leichteres spiel.
irgendwann im frühsommer der achten klasse kam die unerwartete wende. ich traf den unterstützer-typen auf dem nachhauseweg alleine an. er sagte höflich hallo und machte keine anstalten, fies zu werden. ich nutzte seine friedlichkeit und beschuldigte ihn, mein fahrrad gestohlen zu haben. er versicherte mir, dass dem nicht so sei. sie hätten es nur woanders hingebracht - in das wäldchen auf der anderen seite des schulgeländes. ich würde es bestimmt wiederfinden. für mich läuteten alle weihnachtsglocken. am nächsten tag fand ich mein rad tatsächlich wieder. es war unversehrt und ordentlich an einen baum gelehnt.
als ich den unterstützer einige tage später noch einmal alleine traf, wollte ich von ihm wissen, warum sie mich verfolgten. "das war doch nur spaß", meinte er. "das war nicht so gemeint." ich vermutete, dass in dieser antwort viel wahrheit steckte und dass sich mobbing und ähnliche aktionen auf diese weise im allgemeinen gut erklären lassen: es ist für die täter einfach ein riesenspaß - und sie machten sich keinerlei gedanken darüber, wie es dem opfer dabei ging.
noch etwas sehr merkwürdiges passierte an diesem nachmittag: ich fand den unterstützer-typen plötzlich heiß. er war groß, blond und athletisch - und jetzt sogar irgendwie nett zu mir. vielleicht war ihm tatsächlich klar geworden, dass sie zu weit gegangen waren. ich träumte, dass er mich künftig vor dem anführer beschützen würde. meine ersten romantischen kleinmädchen-fantasien!
tatsächlich ebbte das nachstellen ab. das lag allerdings wohl weniger am engagement meines schwarms als vielmehr daran, dass die jungs in die kollegstufe kamen. dies bedeutete an unserem gymnasium individuelle stundenpläne bis zum späten nachmittag - und somit selten gemeinsamer schulschluss um 13 uhr. nach der neunten klasse sah ich keinen der drei jungs wieder.
bis zum abitur hatte ich das schlimmste hinter mir. meine klasse und ich wurden nie freunde, auch wenn mich ein schüleraustausch mit den usa mit einigen von ihnen näher zusammenbrachte. zu beginn der kollegstufe lernte ich dann meine erste große liebe kennen, was mich zutiefst entspannte. endlich liebte mich jemand - da konnte mich der rest der welt mal am arsch lecken.
"bis zum abitur hatte ich das schlimmste hinter mir."
AntwortenLöschenSchxxxx, Schxxxx, Schxxxx, Schxxxx,
"beinig an outsider: die jahre am gymnasium" ist so schrecklich ... das man da psychisch fürs Leben gezeichnet ist, ergibt sich von selbst.
Das kocht immer wieder hoch und belastet jemanden sein Leben lang.
So eine Kack-Schul-Biografie.
(ich — m— auch scheiße angezogen, hatte zumindest die körperlichen Möglichkeiten feste draufzuhauen — ich war zwar Opfer aber auch Täter.
Gruß
Jens
ich denke, es wäre schon einfacher gewesen, hätte ich ein paar freundinnen gehabt, mit denen ich gemeinsam zur schule und mittags wieder nachhause gefahren wäre. manchmal nahm ich wie gesagt n. mit, die wegen schlechter noten immer dresche bekam (deren mutter verstand vielleicht ihr handwerk, das waren keine harmlosen ohrfeigen!). aber leider fand ich gleichaltrige einfach LANGWEILIG. ich war auch immer froh, wenn n. wieder weg war, weil ich mir keine geschichten über den sitzenbleiber anhören wollte. :-D
Löschenlustigerweise ging ich trotz allem viele jahre gern zur schule. ich mochte meinen deutsch-, englisch-, reli- und kunstunterricht sehr. meine deutschlehrerin und meine kunstlehrerin förderten mich auch sehr. nur mit den mitschülern lief das halt nicht.
machmal wär ich auch gerne eine junge gewesen und hätte einfach draufgehauen. ;-) prinzipiell hätte ich aber auch als mädchen "zurückschlagen" können. den jungs mal die luft aus den reifen lassen, gerüchte über sie verbreiten (klowand-wahrheiten machten es in zeiten ohne social media noch weit), oder notfalls mich einem lehrer anvertrauen. problem war, ich war zu lieb. es wäre mir nicht in den sinn gekommen. ich steckte damals auch schon so tief in philosophie und habe mich mit universeller liebe beschäftigt (und zu meinem sinn des lebens erhoben), dass ich unbedingt auch ethisch handeln wollte. alles unglückliche kombinationen...