Sonntag, 20. Juli 2025

we(ni)ge(r) ins nichts

weniger ist der weg richtung nichts. und wenn nichts die ultimative freiheit bedeutet, ist weniger der weg zu mehr freiheit. 

mit 6 jahren habe ich begonnen, das weniger zu entdecken: ich bekam 70 pfennig taschengeld pro woche und legte möglichst 20 pfennig davon zurück. manchmal sogar 50. ich war irrsinnig stolz auf mich, wie sich die münzen in meiner kleinen zigarrenkiste stapelten. weniger auszugeben bedeutete: mehr zu haben - wann immer ich wollte. eine autonomie, die ich zutiefst genoss.

als studentin habe ich die sache perfektioniert. nur wenige dinge zu besitzen bedeutete nicht nur, weniger geld zu verbrauchen und unabhängiger von den eltern oder einem job zu sein. es hieß vor allem, kaum ballast und immer die möglichkeit zu haben, in kürzester zeit und ohne große umstände umziehen zu können.  

"du lebst immer noch wie eine studentin", sagen viele heute zu mir. aber ich kann es mir leisten: ich habe auf kinder verzichtet. ich brauche so nicht mehr als zwei zimmer - und habe außerdem mehr zeit, die ich nicht auf spielplätzen oder in eltern-whatsapp-gruppen verbringe. 

ich habe kein auto, ja, nicht einmal einen führerschein. solange ich laufen und radfahren kann oder in der nähe einer bushaltestelle lebe, ist ein auto überflüssig. ich bewege mich gerne. mein blutdruck ist im unteren normbereich, mein gewicht ebenfalls. theoretisch passe ich sogar noch in dieselben klamotten wie vor 25 jahren. 

ich sammle eindrücke und erlebnisse, allesamt an nichts gebunden, das man eine investition nennen dürfte. ich muss nicht viel erleben, um tief bewegt zu sein. mein bedürfnis zu reisen ist gering. ich brauche dabei keine sternehotels, kein festliches dinner, keine flüge in ferne länder. ich reise ständig in mir - und das ist mir genug. mein urlaub ist herzensurlaub und besteht darin, freundschaften, liebe und natur zu erleben, nachhause zu kommen, mich geborgen zu fühlen. 

materielles anzuhäufen vermeide ich. bücher oder kleidung gebe ich regelmäßig weg. meine achillesferse sind flohmärkte und verschenke-kisten an der straße. nicht immer kann ich mich davon abhalten, gar nichts mitzunehmen, denn dinge, die eine geschichte haben, erzählen geschichten. auch geschenke, selbst nutzlose, behalte ich tendenziell, weil sie mir als symbol einer persönlichen bindung dienen.

meine wohnung bleibt so aufgeräumt, übersichtlich und klar. kaum schnickschnack, aber doch genügend ästhetik, in geraden linien und fein abgestimmten farben. "du hast es aber schön", sagen andere, oft regelrecht überrascht - weil sie wenig erwartet haben.

behalten und bewahren will ich im leben vor allem das, was wirklich unbezahlbar ist und was mir keiner nehmen kann: schöne erinnerungen und beziehungen zu anderen menschen. mit meiner persönlichkeit ist letzteres ein schwieriges unterfangen. ich kann nicht alle halten, weil ich es ohne intensität nicht aushalte. manchmal muss ich bei allem auch die beziehung zu mir selbst voranstellen.

ich bin gespannt darauf, eines tages auch das wenige, das leben an sich noch loszulassen. ob mich dann das große, heilige nichts erwartet?

und falls es einen gott gibt, dann muss er genau das sein: nichts oder die unendliche freiheit. 

passend zu diesen gedanken hat ruben zimmermann ein buch geschrieben über das unpopuläre thema verzicht

5 Kommentare:

  1. Ich frage mich, ob das überhaupt Verzicht ist oder einfach eine von vielen Arten, deine persönliche Art, mit Materie umzugehen, dein Lebensstil.

    Verzicht klingt schrecklich negativ ... und was wäre denn sein Gegenteil? Billigung, Akzeptanz, Zustimmung, Anerkennung, Erlaubnis, Bestätigung sagt das Internet, das trifft allerdings irgendwie auch auf deine Art, Materie zu betrachten ... Hm. So oder so ... ein spannendes Thema.

    Bei Materie geht es immer irgendwie auch um die Macht, die wir den Dingen zugestehen. Wie viel Macht haben sie über mich und bin ich mir dessen bewusst?

    Manche Dinge brauche ich, sie tragen zu Lebensqualität bei.



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    1. bestimmte materie braucht man in der tat unbedingt - zum beispiel einigermaßen gesunde lebensmittel, bei bewegungseinschränkungen ein fortbewegungsmittel, bildende materialien wie bücher, kurse etc., und natürlich auch materie, die wiederum hilft, das anhäufen weiterer materie und ungesunde bedürfnisse zu vermeiden - zum beispiel gutes schuhwerk, um schmerzfrei zu laufen, oder ein ordentliches fahrrad, um auf ein auto verzichten zu wollen.

      mit macht hast du ein ganz wichtiges stichwort angesprochen! wer hatte früher macht? die kirche, die die gesellschaft kleinhielt, indem sie ihr sagte, du musst so und so leben, damit du in den himmel kommst. absolut faschistisch. heute haben wir politiker und wirtschaftsherrscher, die uns sagt: konsumiere, sonst bist du defizitär! du BRAUCHST diese rolex und diesen porsche, um ein geiler hecht zu sein. und du, weib, du brauchst diese plastiktitten und das chanel-kleidchen, weil du sonst keine richtige frau bist und keinen kerl im porsche abkriegen wirst! und du brauchst auch dieses stylische hotelzimmer auf den kanaren, weil alles andere kein urlaub ist, den du auf instagram vorzeigen kannst!

      also auch heute wird uns auf absolut faschistische weise vorgeschrieben, wie wir zu leben haben und was wir zu konsumieren haben. nur nicht mehr durch religion, sondern durch einen kapitalismus, der unsere welt und unsere ressourcen und unsere seelen zerstört. jeden tag - vom ersten klick im internet bis zur werbepause im spielfilm wird uns gepredigt, dass konsum der einzige sinn ist, den wir haben, und auch der einzige grund, was diesen ruf nach arbeiten-müssen und aufsteigen-müssen rechtfertigt.

      für mich ist meine art zu leben daher tatsächlich kein verzicht. es ist meine persönliche, unbewingbare freiheit, mich nicht von einer konsumgesellschaft unterjochen lassen zu müssen. es ist meine art der rebellion, und ich werde nicht müde werden, diese rebellion durchzuziehen, bis ich sterbe.

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  2. Ein schöner Text, danke.

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  3. ... hundert Prozent Zustimmung.
    Gruß Jens

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