seit einiger zeit habe ich eine neue nachbarin, die man zwar nie sieht, die sich aber konstant durch laute musik, nächtliche streits mit lovern im treppenhaus sowie durch das nichterledigen der treppenhausordnung ins vordere bewusstsein aller mitwohner drängt.
da ich direkt über ihr wohne und den meisten lärm abbekomme, wagte ich es neulich, ein machtwort zu sprechen. die nachbarin meinte, das ginge nicht anders, sie studiere kunst. als künstlerin müsse sie sich entfalten, sonst werde sie krank. aber das könne ich als alte frau natürlich nicht verstehen.
als sie das künstlerargument brachte, musste ich laut lachen, weil mich das sehr an mein studium erinnerte. einführungskurs neue deutsche literatur im jahr 2002: die hälfte der kursteilnehmer behauptete in der vorstellungsrunde entweder, dass man schriftsteller sei, oder dass man diese profession zumindest in zukunft mit tausendprozentiger sicherheit äußerst erfolgreich ausüben werde. diese kurshälfte war dann die, die den einführungskurs zügig abbrach, um fortan für viele jahre irgendwas mit taxifahren oder kellnern zu machen.
heute sehen wir selbsternannte künstler, influencer und andere z-promis im dschungelcamp beim madenfressen. das mag sicherlich lukrativer sein als das gemeine künstlerdasein, sicherlich auch lukrativer als mein job. aber das öffentliche zurschaustellen von komplexen, dummheit und hässlichkeit ist in meinen augen dann doch eher weniger kunst. es hat auch nicht den anspruch der schlichten arbeit einer toilettendame oder eines müllsortierers am fließband. es ist einfach nur ein sehr trauriges abbild eines bodensatzes unserer gesellschaft.
kunst hat demnach in ungefähr 99,5 % der fälle überwiegend mit einbildung und falscher selbsteinschätzung zu tun. kurzum: mit einer mischung aus komplexen und fehlender persönlicher größe. besonders nervtötend kommt so etwas in partnerschaften zum tragen. auch ich hatte ab und an mal lover oder partner, die der meinung waren, in ihnen stecke eigentlich ein ganz großartiger künstler. ich mag nicht abstreiten, dass im einen oder anderen falle eine gewisse begabung vorhanden war, die durch langes und hartes arbeiten daran und seelischer reife einschließlich der fähigkeit zur selbstkritik durchaus zu etwas mittelgroßem hätte erblühen können. doch in der regel wurde auch hier kunst banal zur selbstdekoration missbraucht und dazu, komplexe zu hegen und zu pflegen und besagte selbstkritik nicht entwicklen zu müssen.
selbstverständlich interessiert sich meine neue nachbarin nicht dafür, was ich eigentlich mache. ein wenig würde es mich in dieser situation natürlich reizen, ihr unter die nase zu reiben, dass ich hauptsächlich mit schreiben meinen lebensunterhalt bestreite. wobei ich mich weder als schriftstellerin noch als autorin noch als textkünstlerin o.ä. bezeichnen würde - wie sehr viele meines fachs es gerne tun. ich bin eine hure und verkaufe meine seele, um dinge zu bewerben, die kein mensch braucht. damit andere schlampen diese nutzlosen dinge besser verkaufen können. oder wieder einkaufen, um noch unbedeutenderen mist daraus zu machen. oder aber um als zuhälter über andere zu wachen, damit diese brave huren bleiben und den straßenstrich des kapitalismus am laufen halten.
wenn ich nicht gerade herumhure, bin ich derzeit mit lärmprotokollen und vermieter-disputationen beschäftigt,
damit die künstlerin vielleicht bald in eine wilde kommune oder einfach dahin,
wo der pfeffer wächst, abwandern muss. es bleibt also wenig zeit für l´art pour l´art und ähnlich aufgeblasenes gedöns.