Dienstag, 27. Dezember 2022

on ne voit bien qu'avec le cœur

in n. verabrede ich mich manchmal mit einem meiner ex-lover. so auch heute, denn ich bin immer neugierig, was aus diesen menschen geworden ist. und wieder einmal ist es frappierend zu sehen, wie die zeit alles verändert.

von weitem ist er dieselbe einnehmende gestalt, groß, schlank, elegant, geschmeidig, mit offen wehendem mantel. als er jedoch vor mir steht, erschrecke ich ein wenig, denn er wirkt müde, alt und beinahe etwas ungepflegt. weiße dreitage-bartstoppeln und ein einzelnes graues haar, das zu weit aus der nase ragt. auch sein geruch ist ein ganz anderer. ein strenger altherrengeruch, mühsam überdeckt von einem parfum, das ihm nicht steht. er strahlt, aber mir bleibt das strahlen im halse stecken.

wir unterhalten uns, allerdings anders und deutlich weniger angeregt als früher. der ex, inzwischen wohlhabend und zu eigentum gelangt, weckt mit ein paar abgeschmackten neoliberalistischen thesen die streitlust in mir. er  - früher der bescheidenste mensch der welt, der es ablehnte, ohne entsprechende ausbildung ins familienunternehmen einzusteigen, weil er qualifizierteren fachkräften nicht aus reiner bequemlichkeit den job wegnehmen wollte - ist heute dort geschäftsführer. 

"wow, ich habe das gefühl, ich sitze mit christian lindner hier", entfährt es mir dann doch irgendwann. "wo ist denn bitte deine liebe zum menschen geblieben? dein herz für schwächere? dein auge für gerechtigkeit?"
der ex ist ein wenig betreten und fragt mich, ob ich finde, dass er sich so verändert habe.  

"jupp", sage ich ehrlich wie immer und exe den rest meines getränks. "richtig abgewichst bist du geworden. erzählst mir hier deine jobscheiße, die keine sau auch nur für 5 cent interessiert, in welchen protzigen kack-hotels du warst und wie teuer du gegessen hast. merkst du nicht, wie oberflächlich und banal das ist? und wie wahnsinnig du mich damit langweilst?"

jetzt ist er richtig schockiert. möchte wissen, ob wir abbrechen sollen. ich nicke. er will mir den drink bezahlen, was ich ablehne, nachdem er kurz zuvor noch über das thema "schnorrermentalität" referiert hatte. 

"schade", sagt er nur, als er draußen vor seinem wuchtigen bmw-kindergrill steht und mit dem schlüssel spielt.
"on ne voit bien qu'avec le cœur", sage ich zum abschied, weil er mir das früher gern sagte, in seinem ultraperfekten französisch. aber er wirkt nicht, als könne er sich erinnern.

Montag, 19. Dezember 2022

frohes fest!

hauptstadthommage (adaptiert aus den morphinschen archiven, 12/2008. weil ichs immer noch irgendwie richtig wichtig geil und ausgesprochen istzuständig finde. alternativer titel war "der kongress tanzt")

es ist soweit
advent fast weihnachtszeit
die kälte schreit
in deine visage
 
im hals da stecken karamell
und olle kamellen von kamelen
in der stadt, wo an der ubahn nachts
die ratten im türkischen imbiss verschwinden
 
denn da schlafen die ratten doch
in neukölln und steglitz behaglich
- soziale kuschelnester, abbruchreif -
auf fehlern, die man wiederholen möchte
und solchen, die eher nicht
 
obwohl man reuelos
grenzlos
ohne moral
sich in den arsch ficken lässt
vor lachen gekrümmt im gebüsch liegt
 
anfassen
sehen
riechen möchte 
an der fäulnis
an den abgasen und ausflüssen
 
wo das dunkel reizt
und das grelle feixt
lamento beseitigen 
in lametta
glanz glamour glatzen
 
dahinstöckeln 
schwänze umschwänzeln
in dreckigen löchern wühlen
die eigene hirnkotze spülen

bis am morgen matt die sonne
ihren falschen heiligenschein
in die scherben
zerbrochener bierflaschen wirft.

 


 

Donnerstag, 15. Dezember 2022

leise rieselt das salz

ilsebill salzte nach, lautet das hamburger motto in jedem verkackten winter, sobald die temperaturen sich dem gefrierpunkt nähern. eine hübsche weiße decke ziert die straßen. doch man weiß nicht so recht: ist das schnee - oder sollte das besser weg? 

anders als andere großstädte (berlin, münchen, etc.) klebt das rückständige hamburg am salzstreuer wie die letzte generation auf den straßen. es ist so toll, das grundwasser zu verseuchen, geschwüre auf tierpfoten oder mir beim spazierengehen nasenbluten zu verursachen.

derweil predigt man uns hier verkehrwende und grünes allerlei. oder eher: leute-verscheißerlei, denn in wirklichkeit wird alles, was in hamburg passiert, um das auto herumgestrickt. die porsche- und kindergrill-fahrer müssen eine enorme lobby haben, die das scheinheilige pack unseres senats devot seibernd bedient. deshalb freue ich mich sehr darauf, wenn diese kackstadt in ein paar jahrzehnten vom meer verschluckt wird (mit dem deichbau sind wir nämlich schon zu spät dran, haha!). dann geht alles unter: die blechlawinen, der dreck, der müll und die überteuerten sonderangebote von vorgestern. so gerne würde ich dabei zusehen, aber ich sehe lieber zu, dass ich mich rechtzeitig wie die berühmte kuh vom eis bringe.

im kopf habe ich die koffer längst gepackt. am wochenende stelle ich dem luxus-mann meinen plan vor, für eine zeitlang mit meiner freundin m. und ihrem mann in die usa zu gehen. beide bewerben sich gerade intern bei ihrem unternehmen und werden spätestens 2024 emigrieren. ich kann das zwar nicht, weil ich von einem kleinen deutschen gehalt, von dem fette deutsche steuern und ab nächstem jahr noch fettere sozialabgaben abgehen, nicht dauerhaft dort leben kann. aber ein paar monate will ich gerne da bleiben und dann weitersehen. vielleicht stelle ich ja auch fest, dass ich als fritten-schlampe und patti-wenderin bei mcdoof übersee genauso viel verdiene wie hier in meinem job im land des unbewältigten reformstaus.

Montag, 12. Dezember 2022

ich trau dir nicht, ich trau mir nicht

seit dem erneuten entzugsbedingten abrauschen in die depression habe ich keine gefühle mehr für den luxus-mann. ich möchte nicht kuscheln, ich möchte nicht angefasst und schon dreimal nicht penetriert werden. sogar ganz normale alltagsdinge wie gemeinsam einen film gucken stoßen bei mir auf ablehnung: wie banal! wie bei meinen eltern! DAS können wir ja wohl auch noch in 30 jahren tun! und: wieso ist mir vorher nicht aufgefallen, wie wahnsinnig mich diese banalität stört?

das nichtgefühl ist stärker als bei den letzten depressiven tauchgängen während der luxus-zeit. entsprechend verbringe ich viel zeit damit, herausfinden zu wollen, wie viel stärker genau und ob das anlass für eine trennung ist oder nicht. natürlich führen diese gedankenkreisel ins nichts. man kann sie auch einfach ziehen lassen und ignorieren. was vermutlich das gesündeste wäre. aber der kritiker in mir ist laut. verdammt laut. so laut, dass mich manchmal ohnmächtige verzweiflung überkommt, die mir sagt: du musst hier raus. du erstickst. pack deine koffer. fahr irgendwohin, nirgendwohin.

nach über zehn jahren im stollen der depression weiß ich: das ist alles eine scheinwelt. die depression stellt dem hirn quasi eine falle: alle schöne zieht ungesehen vorbei, während jede winzige schlechtigkeit für 1000 jahre ans firmament gepinnt, dramatisch mit textmarker angestrichen und 24 stunden am tag dauerbeleuchtet wird.

eine dieser schlechtigkeiten lautet: liebt dich der luxus-mann eigentlich? merkt er, was in dir vorgeht? vermutlich nein, sonst würde er ja vielleicht mal was sagen! oder versuchen, dich anzufummeln. der findet dich also bestimmt längst so alt und hässlich und abstoßend wie du dich selbst.

schlechtigkeiten haben klauen und zähne. sie multiplizieren sich permanent mit neuen zermürbenden fragestellungen, die eigentlich nur das eigene miese selbstwertgefühl widerspiegeln. am ende summiert sich der berg auf zur immer gleichen aufforderung: nimm dir das leben! worauf wartest du noch? es gibt NICHTS, auf was jemand wie du noch hoffen sollte. das ist zeitverschwendung. DU BIST ZEITVERSCHWENDUNG.

ich trau mir nicht. weder dieser matrix, aber irgendwie auch nicht dem, was ich mir in den letzten jahren aufgebaut habe. ich traue dem luxus-mann nicht. traue ihm nicht zu, dass er mich liebt. aber auch nicht, dass er mich nicht liebt. 

45 % aller partnerschaften scheitern, wenn einer von beiden depressiv ist, sagt die statistik.

alles ist ein großer zwiespalt. der klafft und will mich verschlucken. 

am samstagabend liegen wir zusammen im bett. ich wage es, meine abstoßende person anzunähern und den arm um den mann zu legen. es fühlt sich fremd an. 

"wie ist das eigentlich gerade für dich... so mit mir?" frage ich todesmutig.
"naja, anders", sagt der luxus-mann anklagend.
"tut mir leid, wenn ich gerade lieblos bin."
der luxus-mann schnauft: "ja."
"weißt du, ich bin so stumpf... also das ist nicht mal traurigkeit. alles ist... wie unter so einer glasglocke. das ist so die matrix, in der ich dann festhänge."
"aber wenn du das weißt, kannst du es ja ändern?" sagt der luxus-mann leicht fragend.
"ich hab keine ahnung, wie ich da rauskomme. oder wann. bislang hats immer irgendwann wieder aufgehört. das ist meine hoffnung. also vielleicht nur noch 3 tage. oder 5 monate. oder 2 jahre."
"hm." ratlosigkeit schwingt in diesem laut mit.

das gespäch führt zu keiner lösung, aber ich bin froh, dass ich es gesucht habe. ein bisschen nähe herstellen per kognitiver anstrengung.

am nächsten tag geht der mann mit mir in den eichhörnchen-park, obwohl wir da schon tausendmal waren und ihn das inzwischen langweilt. danach laufen wir über einen weihnachtsmarkt. es ist 13 uhr, aber der luxus-mann spendiert mir einen überteuerten glühwein und betreibt ein wenig aufmerksamkeitssteuerung, fast wie einst das objekt. er kommentiert die spießerfamilien und eine gruppe sehr angestrengt-hipper studenten, den nutzlosen kitsch an den ständen und erzählt dann noch ein paar religiös inkorrekte witze.

er erwähnt meinen zustand mit keinem wort. aber ich verstehe, dass er mir auf eine hilflose art und weise gut tun will. 

als ich am abend zu mir zurückfahren will, gibt er mir zum abschied einen kleinen kuss.
ich halte inne und schaue ihn an.
"was denn?" fragt der mann verwirrt.
"ich lieb dich immer noch", sage ich, weil ich es weiß, dass es so sein muss, ganz tief drin in mir, irgendwo unter der verklumpten lavamasse der depression.
der mann weiß wie immer nicht, wohin schauen und grinst sehr verlegen, weil er liebesbekundungen nicht aushält und sie auch nicht erwidern kann.
"ja", sagt er schließlich völlig verunsichert, während ich kichern muss, weil die szene so luxus-typisch ist.
 
und verdammt, so ein kleines lachen prickelt kurz ums herz, als könne es etwas totgeglautes wiederbeleben.

Samstag, 3. Dezember 2022

die behinderte

donnerstagnachmittag. ich schlörre rüber zum teuerka. es ist fast dunkel, die straßenlampen sind schon an und verbreiten ihr schummriges licht.

als ich um die ecke gehe, sehe ich im halbdunkeln eine junge frau. sie steht merkwürdig verdreht da: die beine überkreuzt, das becken viel zu weit nach vorne geschoben. sie verliert das gleichgewicht und stolpert, fängt sich aber wieder. 

ich komme neugierig näher und sehe, dass ihr blasses gesicht zu einer schrecklichen grimasse verzogen ist: die augen weit aufgerissen, der unterkiefer merkwürdig nach vorne geschoben. ach du kacke, denke ich, die arme! was das wohl für eine behinderung ist? schlimm sieht das aus! braucht die hilfe? bekommt die vielleicht gerade einen epileptischen anfall oder sowas?

dann erst entdecke ich das smartphone in ihrer hand und verstehe: die junge dame versucht sich in einem selfie! die grimasse sollte offenbar eine art duckface sein und die verkrüppelte körperhaltung sowas wie sexappeal vermitteln.

na dann. keine hilfe meinerseits nötig. gehirnzellen spritzen kann ich ja nicht.